6. Sozialdemokratische Parteien

Unter der globalen Sozialdemokratie verstehen wir im weitesten Sinne jene Strömung, die historisch gesehen aus dem politischen Flügel der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung entstanden ist und einen parlamentarischen Sozialreformismus betreibt. Wir unterscheiden zwischen einer radikalen Sozialdemokratie, die in Worten „antikapitalistisch“ auftritt, aber deren parlamentarisch-sozialreformistische Praxis nur die bürgerliche Politik und die kapitalistische Warenproduktion reproduzieren kann und einer offen prokapitalistischen. So haben einige heutige sozialdemokratische Parteien wie zum Beispiel in Deutschland die SPD und Die Linke eine solche verbalradikale Vergangenheit. Während dieser trat die Sozialdemokratie für eine politische Eroberung des Staates durch das Proletariat und die Verstaatlichung der großindustriellen Produktionsmittel ein. Das war sozusagen das Maximalziel der verbalradikalen Sozialdemokratie. Dies erwies sich in der Praxis des Partei-„Kommunismus“, des Marxismus-Leninismus, der sich als radikale Abspaltung der Sozialdemokratie entfaltete und in einigen Ländern Eurasiens, Afrikas und auf Kuba die politische Staatsmacht erkämpfte, als staatskapitalistisch-sozialreaktionär. Weil sowohl Marxismus-Leninismus als auch Trotzkismus als die beiden Hauptströmungen des Parteimarxismus geschichtlich aus der Sozialdemokratie stammen und weiterhin parlamentarischen Sozialreformismus betreiben – die sie mit einer mehr oder weniger radikalen Rhetorik verrühren – kann mensch sie durchaus als radikal-sozialdemokratisch bezeichnen. Dagegen passte und passt sich der rechte Flügel der Sozialdemokratie immer stärker an den Privatkapitalismus an und verbürgerlichte total – das heißt, er legte die verbale Radikalität ab wie eine zu eng gewordene Jacke.

Insgesamt reproduzieren sowohl die „gemäßigte“ als auch die radikale Sozialdemokratie – einschließlich des Marxismus-Leninismus und des Trotzkismus – die Klassenspaltung in Form von bürgerlich-bürokratischen Parteiapparaten aus hauptamtlichen FunktionärInnen sowie BerufspolitikerInnen und -ideologInnen auf der einen und einer weitgehend machtlosen kleinbürgerlich-proletarischen Basis als Manövriermasse auf der anderen Seite. Die Sozialdemokratie nimmt an der Formierung des Wahlvolkes teil, welches die regierenden und systemloyal opponierenden politischen Charaktermasken der Nationalkapitale per Stimmzettel ermächtigt. SozialrevolutionärInnen müssen besonders die radikale Sozialdemokratie hart bekämpfen, weil sie unter der Absonderung „antikapitalistischer“ Phrasen durch ihre reformistische Praxis nur den Kapitalismus reproduziert, ja zum linken Flügel des Kapitals gehört. Die radikale Sozialdemokratie ist in der Lage noch vorbewusste antikapitalistische Instinkte – besonders bei jungen Menschen – zu absorbieren und in politische Kanäle zu lenken, die letztendlich den globalen Kapitalismus nicht gefährden. So sehr die rechte Fraktion des Kapitals auch gegen die Sozialdemokratie hetzen mag, sie ist Fleisch vom Fleische des Kapitalismus.

Sozialdemokratische Parteien waren und sind sowohl ein Ausdruck der parlamentarisch-demokratischen Illusionen des Proletariats als auch der kapitalistischen Modernisierung. Zu Beginn des Industriekapitalismus hatten die ProletarierInnen auch in den Demokratien noch nicht das allgemeine Wahlrecht. Die unreife Bourgeoisie hatte Angst vor den ProletarierInnen als WählerInnen – am Ende wählen die noch den Kapitalismus ab! – und das unreife Proletariat entsprechende Illusionen. Die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechtes durch das klassenkämpferische Proletariat und die sozialdemokratischen Parteien widerlegten die unreifen Ängste und Illusionen. Der Kapitalismus ist nicht abwählbar. Aber durch das allgemeine Wahlrecht bekommt er in der Regel eine größere politische Stabilität. Der illusorische Klassenkampf für das allgemeine Wahlrecht stärkte und modernisierte den Kapitalismus.

Die klassische, im Privatkapitalismus wirkende Sozialdemokratie ist staatsinterventionistisch, auf den Sozialstaat orientiert. In Deutschland ging Bismarck durch das Sozialistengesetz zwischen 1878 und 1890 repressiv gegen die Sozialdemokratie vor, gleichzeitig schuf er aber die Sozialversicherungen, um ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ab 1891 war die SPD in ihrer Praxis eine sozialreformistische Massenpartei, die sich selbst und ihre proletarische Basis durch eine „revolutionär“-marxistische Ideologie betrog. In den anderen westeuropäischen und nordamerikanischen Ländern war das ähnlich. Die sozialdemokratischen Massenparteien schlossen sich 1889 weltweit zur „Sozialistischen Internationale“ zusammen – sie zerfiel aber im Jahre 1914, als sich die meisten sozialdemokratischen Parteien im Ersten Weltkrieg auf die Seite der jeweiligen Nationalstaaten stellten.

Schauen wir uns die Integration der SPD in den deutschen Nationalstaat etwas genauer an. Diese war das Ergebnis von zwei sich gegenseitig durchdringenden und bedingenden sozialen Lernprozessen – der Lernprozess der Bourgeoisie und deren politischem Personal auf der einen Seite und der des sozialdemokratischen Parteiapparates auf der anderen. Die Bourgeoisie lernte, dass sie mit Hilfe der Sozialdemokratie den proletarischen Klassenkampf viel besser eindämmen konnte, und die Sozialdemokratie, dass sie nur als politisches Personal der Bourgeoisie an die Staatsmacht gelangen konnte. Der sozialdemokratische Apparat wuchs bis 1914 gewaltig an und bestand in diesem Jahre aus 267 RedakteurInnen, 89 GeschäftsführerInnen, 413 Menschen des kaufmännischen und 2646 Leuten des technischen Personals. Diese Leute können wir alle als kleinbürgerliche ParteibeamtInnen betrachten. Die Parlamentarier als kleinbürgerliche Berufspolitiker kamen noch dazu. Sowohl die kleinbürgerlichen ParteibeamtInnen als auch die sozialdemokratischen Parlamentarier waren zwar nach der sozialdemokratischen Ideologie „Arbeitervertreter“, gehörten aber sozialökonomisch und sozialpsychologisch nicht zum Proletariat, sondern stellten eine sozialdemokratische Variante des KleinbürgerInnen- und KleinbürokratInnentums dar. Und wonach streben KleinbürgerInnen und KleinbürokratInnen sozialpsychologisch aufgrund ihrer Sozialökonomie ganz allgemein? Danach GroßbürgerInnen und GroßbürokratInnen zu werden, nach der Anerkennung durch die Bourgeoisie. Die Mehrheit der sozialdemokratischen KleinbürgerInnen und KleinbürokratInnen im deutschen Kaiserreich stellte da keine Ausnahme dar.

Und innerhalb der deutschen Bourgeoisie entstand im Laufe der Entwicklung bereits während des Kaiserreiches eine Fraktion, welche bereit war die Sozialdemokratie als eine ihrer politischen Strömungen anzuerkennen und zu integrieren. Die VorreiterInnen dieser Fraktion der Bourgeoisie entwickelten sich besonders in der Elektro- und in der Chemie-Industrie. Über den Verein für Sozialpolitik und die um die Jahrhundertwende gegründete Gesellschaft für soziale Reform suchte die Elektro- und Chemie-Bourgeoisie den Dialog mit Gewerkschafts- und SPD-BürokratInnen. Beide Vereine wurden von dieser Fraktion der Bourgeoisie finanziell gefördert. In der „revisionistischen“ Strömung innerhalb der Sozialdemokratie, die von Bernstein ideologisch geführt wurde, welche die sozialreformistische Praxis mit einer Ideologie ausstattete, die dieser Praxis entsprach, fand die integrative Fraktion der Bourgeoisie ihren Ansprechpartner. Das von Kautsky repräsentierte Zentrum der Partei verteidigte bis 1914 die marxistische Ideologie der Sozialdemokratie – auf dem Boden der sozialreformistischen Praxis, welche den „Revisionismus“ hervorbrachte und immer stärker machte. Als die deutsche Bourgeoisie dann 1914 den Versuch machte die bereits aufgeteilte Welt im Interesse des deutschen Imperialismus neu aufzuteilen, nutzte die Mehrheit der Sozialdemokratie dies, um sich während des imperialistischen Gemetzels auf die Seite der Nation zu stellen. Die sozialdemokratische Parlamentsfraktion stimmte für die Kriegskredite und die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands verzichtete für die Dauer des imperialistischen Gemetzels auf jeden Streik. Die Partei- und Gewerkschaftsbürokratie schloss einen Burgfrieden mit der Bourgeoisie und führte einen heftigen Klassenkrieg von oben gegen das Proletariat. Während der revolutionären Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923) stellten sich SPD und Gewerkschaften fest auf die Seite der deutschen Bourgeoisie. Die SPD verbündete sich mit der militärischen Konterrevolution und ging blutig gegen das revolutionäre Proletariat vor. Eine folgerichtige Entwicklung war zu ihrem Ende gekommen. Diese hatte mit „Verrat“ nicht das Geringste zu tun. Ein bürgerlich-bürokratischer Apparat, Fleisch vom Fleische des Kapitalismus, vertrat konsequent seine Interessen gegen das klassenkämpferisch-revolutionäre Proletariat.

Bereits im Kaiserreich gab es schon Ansätze einer radikalen Kritik an der Sozialdemokratie, die sowohl von innen als auch von außen geübt wurde. Diese Kritik können wir in eine anarchistische und eine radikalmarxistische unterteilen. Mit der anarchistischen Kritik an der Sozialdemokratie beschäftigen wir uns im Kapitel III.3. Schauen wir uns hier die radikalmarxistische Kritik genauer an. Interessant ist in dieser Hinsicht die radikale Kritik, die während der 1890er Jahre an der SPDvon den „Jungen“ formuliert wurde. Diese waren radikalmarxistische Oppositionelle innerhalb der SPD um 1890, die sich am zentralistisch-autoritären Parteiaufbau und am parlamentarischen Sozialreformismus stießen. Interessant ist, dass die „Jungen“ bereits auf dem SPD-Parteitag von 1891, auf dem das kautskyanisch-marxistische Programm beschlossen wurde, über die Sozialdemokratie feststellten: „Die ganze Bewegung ist verflacht und zur puren Reformpartei kleinbürgerlicher Richtung herabgesunken.“ (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Erfurt vom 14.-20. Oktober 1891, Berlin 1891, S. 74.) Damit wurde schon sehr früh alles gesagt. Doch auch der Hauptideologe des damaligen Marxismus, Friedrich Engels, bekämpfte die radikalmarxistischen „Jungen“, was alles über dessen ideologische Verknöcherung und Versumpfung aussagt. Unser nachmarxistischer und nachanarchistischer Kommunismus steht eindeutig auch in der Tradition der „Jungen“.

Da die Sozialdemokratie unvereinbar mit einem radikal antiparlamentarischen Marxismus war und ist, wurden die Jungen 1891 aus der SPD geworfen. Sie gründeten im November 1891 die Vereinigung Unabhängiger Sozialisten. Doch den „Jungen“ gelang zwar eine scharfe materialistische Kritik an der Sozialdemokratie und ihre Ablehnung des Parlamentarismus war auch sehr bedeutend, aber ihnen gelang nicht die Ausformulierung einer klaren sozialrevolutionären Alternative. Das war in der damaligen vorrevolutionären Zeit auch nicht möglich. So wandte sich ein großer Teil der „Jungen“ dem Anarchismus zu, der ebenfalls auch grundsätzlich nicht dazu in der Lage war eine theoretische und praktische sozialrevolutionäre Alternative zur Sozialdemokratie zu begründen. Der marxistische Flügel der „Jungen“ brach zusammen. Die Zeit war für einen marxistischen Antiparlamentarismus einfach noch nicht reif. Denn der radikale Marxismus war wesentlich stärker als der Anarchismus die geistige Verarbeitung von Klassenkampferfahrungen. So konnte der radikale Marxismus nur im verschärften Klassenkampf der revolutionären Nachkriegskrise wachsen und gedeihen – um dann nach dem Sieg der Konterrevolution wieder dahin zu schmelzen und zu degenerieren…

Die radikalmarxistischen Intellektuellen Rosa Luxemburg und Anton Pannekoek, die am Ende des 19. Jahrhunderts/Anfang des 20. Jahrhunderts am linken Flügel der Sozialdemokratie wirkten, waren nicht so radikal wie die „Jungen“. Sie kritisierten zu dieser Zeit nicht prinzipiell den parlamentarischen und gewerkschaftlichen Sozialreformismus, sondern nur deren opportunistischsten Auswüchse.

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