7. Der Bolschewismus
Dem Bolschewismus gelang es im Oktober 1917 – nach dem alten russischen Kalender – als kleinbürgerlich-radikale Strömung der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung auf dem Rücken des klassenkämpferischen Proletariats die politische Macht zu erobern und eine staatskapitalistische Parteidiktatur zu errichten. Schauen wir uns diesen Prozess genauer an. Bis einschließlich des Linkskommunismus (siehe Kapitel III.5) idealisiert der Parteimarxismus den Bolschewismus vor seiner politischen Machtübernahme als eine angeblich „proletarisch-revolutionäre“ Partei.
Der von Lenin geführte Bolschewismus war eine kleinbürgerlich-radikale Strömung innerhalb der russischen Sozialdemokratie, während der Menschewismus eine kleinbürgerlich-reformistische war. Russland vor 1917 war noch eine Agrarnation, in der die kapitalistische Industrialisierung noch in ihren Kinderschuhen steckte. Allerdings war die russische Industrieproduktion in riesigen Großbetrieben konzentriert. Das russische Proletariat war zwar zahlenmäßig noch sehr schwach, aber sehr klassenkämpferisch, was es bereits in der Revolution von 1905 zeigte. Die russische Sozialdemokratie – Menschewismus und Bolschewismus – stellte der politideologisch entfremdete Ausdruck des proletarischen Klassenkampfes dar. Der Menschewismus passte sich an die schwache russische Bourgeoisie an, die mit den GroßgrundbesitzerInnen ökonomisch und politisch stark verschmolzen war. Die russische Sozialdemokratie konnte sich in keine parlamentarische Demokratie integrieren, weil es diese in Russland nicht gab. Der Zarismus stellte eine Mischung aus asiatischem Despotismus und europäischem Absolutismus dar, und wie letzterer die Staatsform einer Übergangsgesellschaft vom Feudalismus zum Industriekapitalismus. Die von Lenin geformte bolschewistische Partei war eine kleinbürgerlich-radikale Umsturzkraft in einem Land mit einer noch schwachen Bourgeoisie, die deshalb von der erstgenannten überwunden werden konnte.
Lenins kleinbürgerlich-radikale Ideologieproduktion richtete sich bereits vor dem bolschewistischen Staatsstreich im Oktober 1917 sowohl gegen Bourgeoisie als auch gegen das Proletariat. Seine Konzeption einer zentralisierten und disziplinierten Partei entsprach den Bedürfnissen der politischen Machtübernahme der bolschewistischen BerufspolitikerInnen. Die nannte Lenin „BerufsrevolutionärInnen“. Der bolschewistische Parteiapparat von „BerufsrevolutionärInnen“ bestand aus kleinbürgerlichen Intellektuellen und ehemaligen LohnarbeiterInnen. Es liegt auf der Hand, dass dieser Apparat die proletarische Basis beherrschte, aber nicht anders herum. Nach Lenins Konzeption hatten die Intellektuellen das „sozialistische Bewusstsein“ – sprich die Parteiideologie – in das Proletariat zu tragen, um es zur Manövriermasse des kleinbürgerlichen Radikalismus zu machen.
Dem Ersten Weltkrieg, in den Russland an der Seite von England und Frankreich trat, war der Zarismus nicht gewachsen. Der Zarismus geriet in seine Todeskrise, die europäische revolutionäre Nachkriegskrise begann mit der Februarrevolution von 1917 – nach dem alten russischen Kalender –, deren Haupttriebkraft das Proletariat war. In Folge der Februarrevolution entstanden auch die Räte (Sowjets) der ArbeiterInnen und Soldaten als Organe der klassenkämpferischen Selbstorganisation des Proletariats und der vorwiegend kleinbäuerlichen Soldaten. Doch die Sowjets wurden von kleinbürgerlichen BerufspolitikerInnen des reformistischen Menschewismus und der „sozialrevolutionären“ BäuerInnenpartei beherrscht. Diese halfen Bourgeoisie und GroßgrundbesitzerInnen nach dem Sturz des Zarismus durch die Februarrevolution eine konterrevolutionäre provisorische Regierung auf Basis der parlamentarischen Demokratie zu bilden. Die provisorische Regierung führte jedoch den Ersten Weltkrieg weiter, was sie in den Konflikt mit den kriegsmüden Soldaten brachte. Weil die Bourgeoisie zu sehr mit dem Großgrundbesitz verschmolzen war, war sie auch unfähig zu einer radikalen Bodenreform, welche die BäuerInnen forderten und selbst „wild“ durch eine radikale Agrarbewegung umzusetzen begannen. Diese strebte kleines Privateigentum an Land an, war also kleinbürgerlich-radikal.
Die Februarrevolution gebar auch eine Doppelherrschaft. Auf der einen Seite die provisorische Regierung und auf der anderen die Sowjets als politisch deformierte Organe der klassenkämpferischen Selbstorganisation des Proletariats. Diese Doppelherrschaft wurde am Anfang abgefedert und gemildert, indem die die Sowjets beherrschenden menschewistischen und „sozialrevolutionären“ BerufspolitikerInnen schließlich auch in die provisorische Regierung eintraten. Diese versuchte die Sowjets in die parlamentarische Demokratie aufzulösen. Dies gelang aber nicht, weil die provisorische Regierung als Machtapparat zu schwach war, um die russische Revolution konterrevolutionär zu beenden. So wurden die kleinbürgerlich-radikalen BerufspolitikerInnen des Bolschewismus innerhalb der Sowjets immer stärker. Der Bolschewismus strebte danach als kleinbürgerlich-radikale Umsturzpartei mit Hilfe der Sowjets die provisorische Regierung zu stürzen. Doch seine Parole „Alle Macht den Sowjets“ war objektiv demagogisch, wie sich nach seiner politischen Machteroberung im Oktober 1917 zeigen sollte. Der Bolschewismus strebte keine wirkliche Sowjetmacht, sondern seine Parteimacht an.
Der Oktoberstaatsstreich von 1917 stellte keine proletarische Revolution dar. Sondern er war die politische Machtübernahme bolschewistischer BerufspolitikerInnen im Namen der Sowjets, die nachträglich mit einer schwachen Mehrheit von einem Sowjetkongress legitimiert wurde. Für den Parteimarxismus – einschließlich des Linkskommunismus – war die politische Machtübernahme innerhalb des russischen Staates durch die bolschewistischen BerufspolitikerInnen eine „proletarische Revolution“. Doch die soziale Revolution kann nur die antipolitische Zerschlagung des Staates durch das sich selbst revolutionär aufhebende Proletariat sein. Die politische Eroberung des Staates durch BerufspolitikerInnen kann objektiv nur sozialreaktionär sein. Und auch die politische Machtübernahme des Bolschewismus im Oktober 1917 war von Anfang an absolut sozialreaktionär. Der Rätekommunismus kam mit seiner Klassifizierung des bolschewistischen Oktoberstaatsstreiches als „bürgerlicher Revolution“ dieser geschichtlichen Tatsache schon wesentlich näher. Ja, die Übernahme der politischen Macht durch den Bolschewismus war bürgerlich, aber „revolutionär“ war sie nicht, sondern absolut sozialreaktionär. Der Rätekommunismus (siehe Kapitel III.6) übernahm vom Marxismus den falschen Begriff von der „bürgerlichen Revolution“. Dieser ideologisierte die politische Machtübernahme der radikal antifeudalen Fraktion der Bourgeoisie (England) beziehungsweise des kleinbürgerlichen Radikalismus (Frankreich) während der antifeudalen Revolutionen. Doch sowohl in England als auch in Frankreich ging die antifeudale Revolution in die bürgerliche Konterrevolution über (siehe Kapitel I.8). Die politische Machtübernahme von Cromwell in England und die der kleinbürgerlich-radikalen Jakobiner stellte der Höhepunkt der antifeudalen Revolution und zugleich der Umschlagmoment in die bürgerliche Konterrevolution dar. Der bolschewistische Oktoberstaatsstreich von 1917 war der Höhepunkt einer antifeudal-antiprivatkapitalistischen Revolution und der Umschlagmoment in die parteimarxistische Konterrevolution.
Der bolschewistische Staatsapparat zerschlug die Sowjets als Organe der klassenkämpferischen Selbstorganisation des Proletariats. Die Verstaatlichung der großindustriellen Produktionsmittel im Sommer 1918 machte aus „Sowjet“-Russland ein staatskapitalistisches Regime. Das Verstaatlichen der Produktionsmittel, das ist das Radikalste, was eine kleinbürgerliche Politik gegen das Privatkapital machen kann – es wird dadurch enteignet – und zugleich das Reaktionärste, was sie dem Proletariat antun kann – es wird der staatskapitalistischen Ausbeutung unterworfen. Durch die politische Machtübernahme im Oktober 1917 und die Verstaatlichung der Großindustrie im Sommer 1918 transformierte sich das bolschewistisch-kleinbürgerliche BerufspolitikerInnentum in eine Staatsbourgeoisie und ihre kleinbürgerliche Umsturzpartei in eine großbürokratische Staatspartei. Diese nannte sich bald „kommunistisch“, um vor sich selbst und dem Weltproletariat ihren staatskapitalistisch-reaktionären Charakter zu verbergen. Die nun herrschende bolschewistische Partei musste sich sowohl gegen die privatkapitalistische Konkurrenz militärisch verteidigen – der BürgerInnen- und imperialistische Interventionskrieg (1918-1921) – als auch als staatskapitalistische Kraft eigenständige BäuerInnenbewegungen (Machnobewegung) und den proletarischen Klassenkampf bekämpfen. Indem das staatskapitalistische Lenin/Trotzki-Regime im März 1921 den Kronstädter Aufstand blutig niederschlug, beendete sie die Russische Revolution konterrevolutionär. Nach dem BürgerInnen- und imperialistischen Interventionskrieg errichtete der Partei-„Kommunismus“ seine Diktatur.
Indem das bolschewistische BerufspolitikerInnentum im Oktober 1917 eine kleinbürgerliche Bodenreform organisierte, sicherte es sich die politische Macht gegen ihre Konkurrenz. Gleichzeitig schuf es dadurch auch eine kleinbürgerliche Warenproduktion in der Landwirtschaft, die nicht wirklich mit der staatskapitalistischen Industrieproduktion vereinbar war. Durch die Neue Ökonomische Politik (NEP) förderte der bolschewistische Staatsapparat zwischen 1921 und 1928 noch die kleinbäuerliche Agrarproduktion. Diese differenzierte sich sozial aus und gebar auf der einen Seite kleines Agrarkapital, welches das auf der anderen Seite entstehende Landproletariat (Knechte und Mägde) ausbeutete. Wäre die NEP weiter befolgt worden, hätte dies zur Entstehung eines Privatkapitalismus in der Agrarproduktion geführt. Doch das Stalin-Regime kollektivierte ab 1928 die Agrarproduktion zwangsweise und betrieb ab dieser Zeit auch eine beschleunigte Industrialisierungspolitik.
Damit übernahm das Stalin-Regime, das den toten Lenin beerbte und sich selbst ab 1924 marxistisch-leninistisch nannte, auch das Programm der Linken Opposition unter Trotzki, Sinowjew und Kamenev, die sich ab 1923 nach und nach innerhalb der herrschenden Staatsbourgeoisie herausbildete – Sinowjew und Kamenev hatten sich am Anfang mit Stalin gegen Trotzki verbündet, aber dieses Bündnis zerbrach schließlich. Die Linke Opposition trat zwischen 1923 und 1928 für eine beschleunigte Industrialisierung, eine stärkere Besteuerung der sich entwickelnden GroßbäuerInnen und mehr innerparteiliche Demokratie im Rahmen der Parteidiktatur ein. 1927 kapitulierten Sinowjew und Kamenev, während die nicht kapitulierenden Anhänger Trotzkis und er selbst verbannt wurden. Der Trotzkismus wurde aus der Staatsbourgeoisie repressiv ausgeschieden. Indem Trotzki – einst neben Lenin der zweitmächtigste Mann im frühen bolschewistischen Regime – von Stalin entmachtet wurde, fiel er aus der Staatsbourgeoisie heraus und wurde wieder das, was er vor dem Oktoberstaatstreich von 1917 war, ein kleinbürgerlicher Radikaler. Der Trotzkismus entstand als eine Strömung des kleinbürgerlichen Radikalismus (siehe Kapitel II.8). Das Stalin-Regime wies Trotzki 1929 aus der Sowjetunion aus und ließ ihn 1940 in Mexiko ermorden. Auch die meisten TrotzkistInnen in der Sowjetunion wurden ermordet.
Der politische Machtkampf zwischen Stalin und Trotzki offenbarte auch die soziale Spaltung der sowjetischen Staatsbourgeoisie in zwei Schichten. Die eine Schicht bestand aus ehemaligen kleinbürgerlich-radikalen BerufspolitikerInnen des Parteimarxismus – nicht nur der bolschewistischen Partei, Trotzki zum Beispiel wurde erst 1917 Bolschewik –, während die andere Schicht aus Karrieristen bestand, die sich erst dem siegreichen Bolschewismus anschlossen, um innerhalb der Staatsbourgeoisie Karriere zu machen. Stalin war der ehemalige bolschewistische „Berufsrevolutionär“, der sich auch sozialpsychologisch vollständig vom kleinbürgerlichen Radikalismus reinigen konnte und zum führenden Staatsbourgeois wurde, der herrschen wollte und alles andere dem unterordnete. Trotzki war der blutige Henker von Kronstadt, aber zu sehr mit seiner eigenen kleinbürgerlich-radikalen Vergangenheit verbunden, um sich vollständig zum Staatsbourgeois zu transformieren. Er sah sich noch immer als „proletarischer Revolutionär“ und begann inkonsequent das Stalin-Regime zu bekämpfen – ohne dessen staatskapitalistische Basis erkennen zu wollen und zu können, er verteidigte es bis zu seiner Ermordung als „bürokratisch entarteten ArbeiterInnenstaat“. Aber auch die linientreuen StalinistInnen mit einer kleinbürgerlich-radikalen Vergangenheit in Lenins Umsturzpartei wurden in den 1930er Jahren blutig aus der Staatsbourgeoisie heraus „gesäubert“, die freiwerdenden Posten wurden von den Karrieristen übernommen, die der Partei erst nach ihrem Sieg beigetreten waren.
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