Wie wir bereits im Kapitel III.5 schrieben, entwickelte sich bereits innerhalb der KAPD der parteifeindliche Kommunismus heraus. Diese verkörperte damals den geistigen und praktisch wirksamen Höhepunkt des marxistischen Denkens in Deutschland. Bereichert um die praktischen Erfahrungen der Revolution und Konterrevolution ab 1918 erkannte diese Strömung den allgemein bürgerlichen Charakter der politischen Parteiorganisation. Das war auch der Hauptstreitpunkt zwischen dieser Strömung und der KAPD-Mehrheit. Davon abgeleitet war es die Frage des Verhältnisses zwischen KAPD und der „Kommunistischen“ Internationale als Werkzeug des sowjetischen Imperialismus. Die parteifeindliche Strömung um Otto Rühle und Franz Pfemfert begann auch 1920 als erste radikalmarxistische Tendenz die bolschewistisch-staatskapitalistische Parteidiktatur in „Sowjet“-Russland zu kritisieren und lehnte im Gegensatz zur damaligen KAPD-Mehrheit den Beitritt zu der von Moskau beherrschten sozialreaktionären „Kommunistischen“ Internationale ab. Die Trennung des parteifeindlichen Kommunismus von der KAPD erfolgte im Oktober 1920. Doch die parteifeindliche Strömung wirkte noch ein Jahr in der mit der KAPD verbundenen AAUD, bevor sie sich im Oktober 1921 in Form der Allgemeinen Arbeiter-Union-Einheitsorganisation (AAUE) ihre eigene Organisation schuf.
Gleich zu Beginn dieser Schrift sei hier angemerkt, dass wir den alten Begriff Antijudaismus zur Umschreibung des Chauvinismus gegen Jüdinnen und Juden benutzen. Und dies aus zwei Gründen. Erstens ist der Begriff „Antisemitismus“ wesentlich ungenauer. Juden und Jüdinnen sind nicht die einzigen SemitInnen, der sogenannte „Antisemitismus“ richtet sich jedoch meistens ausschließlich gegen die erstgenannten. Wir können einen religiösen und einen rassistischen sowie seit der Existenz des Staates Israel einen nationalistischen Antijudaismus unterscheiden, die sich in der Praxis durchmischten und durchmischen. Und zweitens ist „Antisemitismus“ zu einem Kampfbegriff des Prozionismus und des Staates Israel verkommen, der sich auch gegen israelkritische und antizionistische Jüdinnen und Juden richtet. Selbstverständlich gibt es auch einen gegen den Staat Israel gerichteten Antijudaismus, aber auch eine konsequente und radikale Kritik an Israel und am Zionismus, die nicht auf Antijudaismus beruht. Dazu gehört eindeutig unserer antinationaler Antizionismus, der den jüdischen Nationalismus genauso konsequent wie alle anderen Nationalismen – einschließlich des palästinensischen – bekämpft.
Wir wollen hier die Entwicklung des deutsch-niederländischen und des italienischen Linkskommunismus darstellen. Beginnen wir mit dem Linkskommunismus in Deutschland. Die meisten radikalmarxistischen ProletarierInnen und Intellektuellen waren in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg in der Sozialdemokratie desorganisiert. Sie waren objektiv das revolutionäre Feigenblatt einer sozialreformistischen – also sozialreaktionären! – Partei. Eine rühmliche Ausnahme war der spätere rätekommunistische Intellektuelle Franz Pfemfert, der schon vor 1914 das staatstragend-nationale Wesen der deutschen Sozialdemokratie in deutlichen Worten hart auseinandernahm (siehe auch Kapitel III.6). Seit Februar 1911 brachte er die radikale Zeitschrift Die Aktion heraus. Unsere heutigen antinationalen Positionen haben wir SozialrevolutionärInnen auch Pionieren wie Pfemfert zu verdanken. Auf die kapitalistische Zivilisationsbarbarei des Ersten Weltkrieges reagierte er mit der Gründung der kleinen, aber wichtigen Antinationalen Sozialistischen Partei (ASP).
Aber auch innerhalb der Sozialdemokratie radikalisierten sich die marxistischen Intellektuellen und ArbeiterInnen. Der radikale Marxist Karl Liebknecht überwand im Dezember 1914 als erster und einziger Reichstagsabgeordnete der SPD die Fraktionsdisziplin und stimmte gegen die Kriegskredite. Die radikalen MarxistInnen um Luxemburg und Liebknecht lehnten den imperialistischen Krieg aus revolutionärer Perspektive klar und grundsätzlich ab. Im März 1916 schlossen sich viele von ihnen zum Spartakusbund zusammen. In der SPD entwickelte sich neben dem Spartakus-Bund auch eine gemäßigtere Oppositionsgruppe, der sich schließlich auch Kautsky und Bernstein anschlossen. Diese Strömung befürwortete das globale Gemetzel zwar als „nationalen Verteidigungskrieg“, verurteilte aber dessen imperialistischen Charakter und richtete sich gegen jede Annexionsbestrebung. Diese schwammige Haltung war natürlich objektiv reaktionär. Anfang 1916 trennte sich im Reichstag diese gemäßigte Oppositionsströmung als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ von der SPD-Fraktion. Im April 1917 schlossen sich die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft und der Spartakusbund zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) zusammen. Der Spartakusbund behielt zwar seine organisatorische Selbständigkeit, objektiv muss aber dessen Mitgliedschaft in diesem sozialdemokratischen Verein ganz klar als eine konservative Tendenz – besonders von Rosa Luxemburg – betrachtet werden. Und dass in einer Zeit, die den konsequenten Bruch mit der Sozialdemokratie erforderte.
Zur Friedendemonstration am 3. Oktober 2024 in Berlin
Der Pazifismus
Der Pazifismus tritt als bürgerliche Ideologie für Frieden und Kooperation zwischen den Staaten und für deren freiwillige kollektive Abrüstung ein. Das ist ein Berg aus Illusionen, der angesichts imperialistischer Gemetzel rasch in sich zusammenfällt. Zwischen kapitalistischen Staaten herrscht nun mal Konkurrenz und der Frieden zwischen ihnen ist lediglich die nichtmilitärische Form der Konkurrenz, der auf Hochrüstung beruht. Die Staaten werden niemals freiwillig kollektiv nennenswert abrüsten. Die Forderung an die Staaten, sie sollten das tun, ist illusorisch. Es kann nur eine wirkliche Abrüstung geben: die weltrevolutionäre Zerschlagung aller Staaten! Klassenkrieg statt bürgerlicher Frieden!
Bürgerlicher Frieden kann im Weltkapitalismus nur der Zustand zwischen den Kriegen sein. Die PazifistInnen behaupten Diplomatie sei eine Alternative zum imperialistischen Krieg. Dass die DiplomatInnen von denselben Staaten in Marsch gesetzt werden, die auch Armeen auf- und einmarschieren lassen, irritiert sie dabei nicht sonderlich. Die Diplomatie ist eine Waffengattung des nichtmilitärischen Konkurrenzkampfes, wo das wirtschaftliche und militärische Potenzial von Staaten als deren Basis immer die wichtigste Rolle spielt. Staatliche Diplomatie bereitet im Frieden den Krieg vor und im Krieg den Frieden, aber grundsätzlich verhindern kann und will sie den Krieg nicht.
Wir heutigen SozialrevolutionärInnen stützen uns bei der Kritik an Marx und Engels als PolitikerInnen der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung auch kritisch auf Bakunin. Aber wenn wir Bakunin in der Auseinandersetzung mit Marx zustimmend zitieren, ist das nicht als Parteinahme für den Anarchismus misszuverstehen. In Deutschland, so schrieb Bakunin in Staatlichkeit und Anarchie, „unterwerfen sich die deutschen Arbeiter blind ihren Führern, während die Führer, die Organisateure der sozialdemokratischen deutschen Partei, sie weder zur Freiheit noch zur internationalen Brüderschaft führen, sondern unter das Joch des pangermanistischen Staates.“ (Zitiert nach: Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Verlag Tribüne Berlin, 1990, S. 47/48.)
Rudolf Bahro war früher mal oppositioneller Marxist gegen die SED-Parteidiktatur. Später vertrat dieser Mann sehr krude ökoidealistische Positionen, die auch ökofaschistische Bestandteile enthielten. Doch sein halbmaterialistisches Buch Die Alternative ist ein interessantes Werk. So schrieb Bahro zu Bakunins Kritik an der Sozialdemokratie: „Was Engels 1895 nicht ahnte, das stellte sich Bakunin 1873 fast leibhaftig vor, den ,Aufbruch‘ der deutschen Sozialdemokratie im Jahre 1914.“ (Rudolf Bahro, Die Alternative, a.a.O.,S. 48.)
1. Reproduktiver Klassenkampf und institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung
Die LohnarbeiterInnen führen einen Klassenkampf gegen ihre kapitalistischen AusbeuterInnen. In nichtrevolutionären Zeiten führen sie ihn im Rahmen des Kapitalismus. Wir nennen diesen Klassenkampf reproduktiv, weil er erstens die biosoziale Reproduktion des Proletariats gegen die Tendenz des Kapitals zur Überausbeutung durchsetzt. Überausbeutung das sind Löhne, die nicht reichen, um damit die wichtigsten Lebensmittel zu bezahlen und überlange Arbeitszeiten, die keine körperliche, geistige und mentale Erholung der Arbeitskräfte ermöglichen. Diese Überausbeutung spielte besonders im frühen Industriekapitalismus eine Rolle. Aber auch heute ist sie sowohl im Niedriglohnsektor in den alten Zentren des Kapitalismus Westeuropa, Nordamerika, Japan als auch an seinen neuen Zentren (China) und seiner Peripherie in Osteuropa, Asien, Lateinamerika und Afrika noch weit verbreitet. Das Proletariat setzt also seine biosoziale Reproduktion gegen die Tendenzen des Kapitals zur Überausbeutung durch. Die kapitalistische Überausbeutung gefährdet durch die schwere Beeinträchtigung der biosozialen Reproduktion des Proletariats auch die Quelle des Kapitalverhältnisses selbst, nämlich die Ausbeutung der Arbeitskräfte. Indem das Proletariat durch Klassenkampf seine biosoziale Reproduktion durchsetzt, reproduziert es zweitens auch den Kapitalismus.
Die beiden bürgerlichen Intellektuellen Marx und Engels – von ihrem sozialen Biotop her waren und blieben Marx und Engels ein Leben lang bürgerliche Intellektuelle, das ist keine Denunziation, sondern eine nüchterne Feststellung – schufen zwischen 1844 und 1848 die Grundlage dessen, was mensch heute Marxismus nennt. Sie nannten es „wissenschaftlichen Kommunismus“. Das war und ist von den MarxistInnen als Abgrenzung zum utopischen ArbeiterInnenkommunismus gemeint. Nun, wir heutigen nachmarxistischen und nachanarchistischen KommunistInnen kritisieren die Wissenschaft grundsätzlich als bürgerlich-elitäres Bewusstsein – was natürlich nicht heißt, dass wir alle theoretischen Forschungsergebnisse von ihr ablehnen würden – und streben ihre revolutionäre Aufhebung in einer hochentwickelten Allgemeinbildung einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft an. Der Marxismus stellte geschichtlich ein höheres Niveau der Kapitalismus-Kritik dar. Er knüpfte ideengeschichtlich am utopischen ArbeiterInnenkommunismus an, aber auch am naturwissenschaftlichen Materialismus und an der idealistischen Dialektik Hegels. Aus den Letztgenannten schufen er eine Synthese, nämlich die materialistisch-dialektische Weltbetrachtung als revolutionäre Denkmethode, auf der auch seine Analyse und Kritik des Kapitalismus fußte. Die Schaffung der Grundlagen der materialistisch-dialektischen Denkmethode ist das bleibende Verdienst von Marx und Engels, an der auch wir nachmarxistischen und nachanarchistischen KommunistInnen kritisch-schöpferisch anknüpfen. Allerdings muss diese Denkmethode von marxistischen Dogmen gereinigt werden. Dies wurde durch die Praxis notwendig und möglich.
Der utopische ArbeiterInnenkommunismus entwickelte sich zu Beginn der Industrialisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts heraus. Zu dieser Zeit bestand nur in Großbritannien eine entwickelte kapitalistische Großindustrie. Das europäische Festland war noch stark von Kleinproduktion geprägt, so bestand auch die soziale Hauptbasis des utopischen ArbeiterInnenkommunismus aus Handwerksgesellen. Letztere standen sozial zwischen KleinbürgerInnentum und modernem Industrieproletariat. Der utopische ArbeiterInnenkommunismus war der geistige Ausdruck einer Zeit, in der der Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat schon deutlich zu spüren war, aber die praktischen Erfahrungen des Klassenkampfes noch sehr gering waren. Seine progressivste Tendenz war deshalb seine Kapitalismuskritik, während die von ihm vorgeschlagenen Lösungen nur unreif sein konnten.
Er bestand aus einem reformistisch-genossenschaftlichen, einem syndikalistisch-antipolitischen und einem politisch-umstürzlerischen Flügel. Die Owenisten strebten die massenhafte Gründung von GenossInnenschaften an. Letztere sollten das Kapital aufkaufen oder niederkonkurrieren. Inzwischen haben sich die GenossInnenschaften als eine kleinbürgerlich-kollektive Form der Warenproduktion herausentwickelt, die Übergänge in Kapitalgesellschaften sind sehr fließend. Eine Verklärung der GenossInnenschaften hat sich bis heute im Parteimarxismus, Anarchosyndikalismus und kommunistischen Anarchismus (Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Erich Mühsam) gehalten. Beim letzteren ist diese Idealisierung der GenossInnenschaften mit einer Verklärung der BäuerInnen verbunden. Doch diese beuten im Kapitalismus schon embryonal die Lohnarbeit des Landproletariats aus und gehen fließend in die großbäuerliche Agrarbourgeoisie über.
Der moderne Kommunismus ist die mögliche zukünftige klassen- und staatenlose Weltgemeinschaft, die dazu notwendige sozialrevolutionäre Bewegung des globalen Proletariats zur Aufhebung des planetaren Kapitalismus und deren geistig-ethischer Ausdruck. Er nahm in der Vergangenheit die Formen des utopischen ArbeiterInnenkommunismus, des Marxismus und des Anarchokommunismus an. In diesen bestimmte er auch das Bewusstsein von bewusst sozialrevolutionären Minderheiten des Proletariats und der Intellektuellen. Da sowohl der Marxismus als auch der kommunistische Anarchismus den Anforderungen an eine moderne sozialrevolutionäre Theorie und Praxis nicht genügten und genügen, ist ein gegenwärtiger und zukünftiger Kommunismus notwendig, der von beiden Strömungen die revolutionären Tendenzen und Potenzen gierig aufsaugt, aber konsequent deren bürgerlich-reaktionären Bestandteile verwirft. Der nachmarxistische und nachanarchistische Kommunismus strebt danach, das Sein und Bewusstsein des revolutionären Proletariats zu beeinflussen, wichtige praktisch-geistige Impulse für den möglichen weltrevolutionären Prozess zu geben.
Der heutige antipolitische und antinationale Kommunismus hat also einen langen Geburtsprozess hinter sich, den wir in diesem Abschnitt III darstellen wollen.
Die massenmörderische Krisen- und Kriegsdynamik des globalen Kapitalismus schreit geradezu nach einer planetaren Vernetzung der revolutionären AnarchistInnen und antileninistischen KommunistInnen. Das Weltproletariat wird erbarmungslos von der Weltbourgeoisie verheizt. Der Klassenkampf des Proletariats wird noch immer innerhalb des reproduktiven Rahmens des Kapitalismus geführt, dessen Perspektive für die ProletarierInnen nur Ausbeutung, Arbeitslosigkeit, staatliche Elendsverwaltung, eine sich vertiefende ökosoziale Kriese und Krieg beziehungsweise einen asozialen Frieden bedeuten kann.
Die globale institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung (Gewerkschaften und politische Parteien) ist der bürokratische Ausdruck der den Kapitalismus reproduzierenden Grenzen des proletarischen Klassenkampfes. Die bürgerlich-bürokratischen Partei- und Gewerkschaftsapparate integrierten sich mehrheitlich in den Kapitalismus und wurden Fleisch von seinem Fleische. Anarchosyndikalismus und Parteimarxismus (Linke Sozialdemokratie, Marxismus-Leninismus, Trotzkismus und Linkskommunismus) sind entweder selbst Teil des kapitalistischen Problems oder außerstande eine revolutionäre Alternative zu Kapital, Staat und institutionalisierter ArbeiterInnenbewegung zu entwickeln.
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