6. Der Rätekommunismus
Wie wir bereits im Kapitel III.5 schrieben, entwickelte sich bereits innerhalb der KAPD der parteifeindliche Kommunismus heraus. Diese verkörperte damals den geistigen und praktisch wirksamen Höhepunkt des marxistischen Denkens in Deutschland. Bereichert um die praktischen Erfahrungen der Revolution und Konterrevolution ab 1918 erkannte diese Strömung den allgemein bürgerlichen Charakter der politischen Parteiorganisation. Das war auch der Hauptstreitpunkt zwischen dieser Strömung und der KAPD-Mehrheit. Davon abgeleitet war es die Frage des Verhältnisses zwischen KAPD und der „Kommunistischen“ Internationale als Werkzeug des sowjetischen Imperialismus. Die parteifeindliche Strömung um Otto Rühle und Franz Pfemfert begann auch 1920 als erste radikalmarxistische Tendenz die bolschewistisch-staatskapitalistische Parteidiktatur in „Sowjet“-Russland zu kritisieren und lehnte im Gegensatz zur damaligen KAPD-Mehrheit den Beitritt zu der von Moskau beherrschten sozialreaktionären „Kommunistischen“ Internationale ab. Die Trennung des parteifeindlichen Kommunismus von der KAPD erfolgte im Oktober 1920. Doch die parteifeindliche Strömung wirkte noch ein Jahr in der mit der KAPD verbundenen AAUD, bevor sie sich im Oktober 1921 in Form der Allgemeinen Arbeiter-Union-Einheitsorganisation (AAUE) ihre eigene Organisation schuf.
Die Märzkämpfe in Mitteldeutschland im Jahre 1921 vertieften den Graben zwischen der KAPD und dem parteifeindlichen Kommunismus. Während der Märzkämpfe luden sich eine proprivatkapitalistisch-sozialdemokratische Polizeiprovokation und der Putschismus der „Kommunistischen“ Internationale als Arm des sowjetischen Imperialismus gegenseitig auf – und verheizten das klassenkämpferische Proletariat, mit dem Ergebnis von hundert toten ProletarierInnen. Im Dezember 1920 vereinigte sich der linke USPD-Flügel mit der „K“PD zur V„K“PD. Moskau glaubte nun, ein starkes politisches Instrument in der Hand zu haben, um auch in Deutschland ein staatskapitalistisches Regime installieren zu können. Der sowjetische Staatskapitalismus hatte gerade im März 1921 durch die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes die Russische Revolution konterrevolutionär beendet, spielte sich aber in Deutschland durch seinen Putschismus als Gralshüter der Weltrevolution auf. So beschoss die moskauhörige „Kommunistische“ Internationale im Frühjahr 1921 den Putschismus zur bestimmenden Politik der V„K“PD zu machen. Bernd Langer schrieb darüber, ohne den sozialreaktionären staatskapitalistischen Putschismus korrekt auf den Begriff zu bringen: „Um den Glauben an die Weltrevolution aufrecht zu erhalten und von den innenpolitischen Problemen abzulenken, brauchen die Bolschewiki ein revolutionäres Signal. Eine kommunistische Erhebung in Deutschland soll, unabhängig von ihrem Erfolg, die Fortführung der Weltrevolution dokumentieren. Eine ,Offensivstrategie‘ wird entworfen, nach der eine kommunistische Partei immer und unter allen Umständen verpflichtet ist anzugreifen. Sehr wahrscheinlich sind die Betreiber der deutschen Revolutionsidee im ,Kleinen Büro‘ des EKKI (Führung der „Kommunistischen“ Internationale, Anmerkung von Nelke) zu finden, zu denen Sinowjew, Bucharin und Radek gehören. Die bekannte Parteilinke Ruth Fischer schreibt dazu später, dass ,die Aktion in Deutschland… von einer kleinen Clique um Sinowjew und Bela Kun in der russischen Partei ausgeheckt worden war‘. (Ruth Fischer, Stalin and German Communism: A Study in the Origins of the State Party, mit einer Einleitung von Sidney B. Fay, Cambridge 1948, S. 174/175.)“ (Bernd Langer, Revolution und bewaffnete Aufstände in Deutschland 1918-1923, AktivDruck & Verlag, Göttingen 2009, S. 309.)
Der oben erwähnte ehemalige Oberbonze der ungarischen „Räterepublik“, Bela Kun, kam als Vertreter der „Kommunistischen“ Internationale nach Deutschland, um die V„K“PD in ihrem Putschismus anzutreiben. Der staatskapitalistische Putschismus Moskaus und der V„K“PD stützte sich auf die Provokationen der privatkapitalistischen Konterrevolution, welche die Klassenkämpfe in Mitteldeutschland zuspitzten. Die damalige preußische Provinz Sachsen, die dem heutigen Sachsen-Anhalt ohne Dessau und dem nördlichen Teil Thüringens entspricht, war damals ein Herd von Klassenkämpfen, wo auch (V)„K“PD, KAPD und die AAUD ihre Hochburgen hatten. So zählte die AAUD in den Leuna-Werken während der Zeit der Märzkämpfe 10.000 Mitglieder. Um dem klassenkämpferischen Proletariat Mitteldeutschlands eine entscheidende Niederlage zu bereiten, begann am 19. März 1921 der Einmarsch der preußischen Sicherheitspolizei (Sipo) in Mitteldeutschland. Die Gruben und Fabriken wurden unter polizeiliche Aufsicht gestellt.
Die mitteldeutsche V„K“PD schätzte richtig ein, dass der Einmarsch der Bullen bei der Mehrheit des lokalen Proletariats kein revolutionäres Sein und Bewusstsein hervorrief. Aber Moskau erwartete einen Aufstand! Also musste durch die „Offensiv“-Strategie dem Proletariat auf die Sprünge geholfen werden. Die Zentrale der V„K“PD schickte ihren erfahrenen Sabotage-Fachmann Hugo Eberlein ins mitteldeutsche Industrierevier. Um die Stimmung anzuheizen war von Eberlein unter anderem die Vortäuschung der Entführung von V„K“PD-FunktionärInnen, die Sprengung der Konsumgenossenschaft der ArbeiterInnen in Halle und das in die Luft jagen eines Polizei-Munitionswagens geplant. Dieser reaktionäre Putschismus, der mit der sozialrevolutionären Strategie der Verschärfung und Zuspitzung des reproduktiven Klassenkampfes nicht das Geringste zu tun hatte, scheiterte jedoch an der technischen Unvollkommenheit der V„K“PD.
Dass es überhaupt zum bewaffneten Kampf in Mitteldeutschland kam, ist dem militanten Arbeiter Max Hoelz zu verdanken. Hoelz wurde während des Kapp-Putsches von den „kommunistischen“ Bonzen wegen Mangel an Disziplin aus der „K“PD ausgeschlossen und hatte sich daraufhin der KAPD angenähert. Hoelz traf am 21. März 1921 in Mansfeld ein und begann sofort für den Generalstreik zu mobilisieren. Am folgenden Tag weiteten sich auch die Streiks in Mansfeld-Eisleben aus. Teilweise gingen bewaffnete Gruppen von ArbeiterInnen gegen Streikunwillige vor. Hoelz versuchte durch seine unermüdliche Aktivität das Proletariat in die Aktion hinein zu peitschen. In der Nacht zum 23. März wurde unter der Führung von Hoelz versucht, die von der Sipo davor verhafteten ArbeiterInnen in Eisleben zu befreien. Die von Hoelz geführten und unabhängig von der V„K“PD-Zentrale handelnden ArbeiterInnen holten ihre Waffen aus während des Kapp-Putsches angelegten Verstecken und griffen die Polizeihundertschaften an. Doch der Polizei gelang es ihre Position in Eisleben zu halten. Aber die Region befand sich jetzt im bewaffneten Aufstand. Selbst die lokale Zentrale der V„K“PD in Halle hatte keine Kontrolle über diese Kämpfe. Im Aufstandsgebiet Mansfeld-Eisleben kam es zu Reibereien zwischen der örtlichen V„K“PD und Max Hoelz. Letzterer organisierte selbstherrlich eine „Armee“, der zwischen 1.000 und 2.000 Kämpfer angehörten. Diese Armee wurde für die nächsten zehn Tage zum Schrecken der privatkapitalistischen Sozialreaktion: der GutsbesitzerInnen, der Bourgeoisie und der Bullen. Hoelz‘ Methoden waren Plünderungen und Bankraub, das Niederbrennen der Villen der Bourgeoisie und das Sprengen von Gebäuden, Eisenbahnzügen sowie diverser anderer Einrichtungen. Die privatkapitalistische Konterrevolution nutzte den bewaffneten Kampf, um am 24. März 1921 den nichtmilitärischen Ausnahmezustand über die preußische Provinz Sachsen und Hamburg zu verhängen.
Max Hoelz ließ sich von den Zentralen von V„K“PD und KAPD nicht reinreden. Er organisierte selbständig seine militärischen Operationen. Der Analyse von Hans-Manfred Bock ist nur zuzustimmen: „Die Agitation der VKPD und der KAPD trug zur Zuspitzung der Lage bei, aber die Führung der ausbrechenden Kämpfe lag nicht bei den Zentralen der beiden kommunistischen Parteien.“ (Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923, a.a.O., S. 301.) Die Berliner KAPD-Zentrale ließ sich von der V „K“PD in ihren Putschismus hineinziehen. Beide „kommunistische“ Parteien riefen unter Aufstands-Parolen am 24. März 1921 zum reichsweiten Generalstreik auf, dem jedoch nur 200.000 ArbeiterInnen deutschlandweit folgten. Diese mangelhafte Beteiligung am Generalstreik zeigte eindeutig, dass im März 1921 in Deutschland keine revolutionäre Situation bestand. Übrigens ist unsere Charakterisierung des staatskapitalistischen Putschismus nicht davon abhängig, ob putschistische Partei-„Kommunismen“ in Situationen handeln, die als revolutionär oder als nichtrevolutionär einzuschätzen sind. Es sind das Ziel, die politische Eroberung der Staatsmacht, und die dabei angewendeten politisch-militärischen Methoden, die das klassenkämpferische Proletariat zur Manövriermasse von Parteizentralen degradieren, die den Putschismus charakterisieren. Der Bolschewismus kam 1917 durch eine putschistische Strategie und Taktik in einer revolutionären Situation bei einer schwachen russischen Bourgeoisie an die Macht, V„K“PD und die Berliner KAPD-Zentrale scheiterten mit ihrem Putschismus im März 1921 in einer nichtrevolutionären Situation an der starken deutschen Bourgeoisie. Die schwersten Kämpfe fanden in Leuna zwischen dem 23. und 30. März statt, wo dem dortigen Proletariat von der privatkapitalistischen Sozialreaktion eine blutige Niederlage beigebracht wurde. Am 1. April besiegte die letztere bei Beesenstedt, einem Dorf zwischen Halle und Mansfeld, auch die 200 bewaffneten Arbeiter unter Führung von Max Hoelz. Am selben Tag verkündete die V„K“PD das Ende von ihrem kläglichen Generalstreik. Den letzten Grüppchen gelang noch eine bewaffnete Gegenwehr bis zum 3. April 1921.
Während die V„K“PD sich bald wieder vom Putschismus distanzierte und ihren parlamentarischen und gewerkschaftlichen Sozialreformismus reproduzierte – um dann zwei Jahre später einen noch eindeutigeren Putschismus zu betreiben –, stellte die Niederlage im März 1921 das Ende der KAPD als handlungsfähiger Partei dar und sie degenerierte endgültig zur politideologischen Sekte. In den Märzkämpfen von 1921 erwies sich die KAPD-Zentrale objektiv eindeutig als „kommunistisch“. Ihr putschistisches Verhalten bewies eindeutig die Richtigkeit der revolutionären Parteikritik. Sie ließ sich von Moskau und der V„K“PD in einen sozialreaktionären Putschismus hineinziehen. In den Märzkämpfen von 1921 setzte sich auch in der „K“APD endgültig der objektiv gegebene bürgerlich-reaktionäre Charakter der Parteiorganisation gegen die illusorische revolutionäre Subjektivität vieler ihrer Mitglieder durch. Parteien müssen als politische Organisationen danach streben, die Staatsmacht zu erobern. Da die „K“APD den Parlamentarismus ablehnte, blieb ihr nur der Putschismus zur Eroberung der politischen Macht. Die Eroberung der politischen Macht durch Parteien kann den Kapitalismus nur reproduzieren. Nur die antipolitische Zerschlagung des Staates, die zugleich die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats darstellt, vermag den Weg zur klassen- und staatenlosen Gesellschaft freizukämpfen. Während sich die KAPD in den Putschismus des sowjetischen Imperialismus, der „Kommunistischen“ Internationale und der V„K“PD hineinziehen ließ, kritisierte dies die parteifeindliche Strömung, die damals noch Teil der AAUD war, scharf.
Nachdem der radikalmarxistisch-parteifeindliche Flügel mit der KAPD gebrochen hatte, blieb er noch ein Jahr in der AAUD. Doch dieses Jahr war eines der erbittertsten Fraktionskämpfe zwischen den ParteifeindInnen und den KAPD-AnhängerInnen innerhalb der Union. Die Vorstellungen über die praktischen Aufgaben einer revolutionären Klassenkampforganisation waren zwischen den verschiedenen Fraktionen gar nicht so unterschiedlich. Was sie trennte, war die Haltung zur KAPD. Und so trennten sich die theoretisch klarsten und praktisch konsequentesten parteifeindlichen RevolutionärInnen um Otto Rühle und Franz Pfemfert im Oktober 1921 von der AAUD und bildeten die Allgemeine Arbeiter-Union-Einheitsorganisation (AAUE). Die AAUE verstand sich als antiparlamentarische und gewerkschaftsfeindliche revolutionäre Klassenkampforganisation. Antigewerkschaftlich bedeutete, dass sie Tarifverträge mit der Bourgeoisie und das Mitwirken in den gesetzlich-sozialpartnerschaftlichen Betriebsräten grundsätzlich ablehnte. Diese Grundhaltung wird auch heute noch vom bewusst antipolitischen Kommunismus geteilt. Im Geburtsjahr der AAUE waren die ArbeiterInnen- und Soldatenräte als Organe der klassenkämpferischen Selbstorganisation des Proletariats bereits von der Konterrevolution vernichtet. Aber es gab noch hunderttausende antiparlamentarisch und gewerkschaftsfeindlich eingestellte ProletarierInnen – und ebenfalls zehntausende parteifeindliche, die zur Massenbasis der AAUE wurden. Im Glossar des Buches von Marcel Bois, Kommunisten gegen Hitler und Stalin. Die linke Opposition der KPD in der Weimarer Republik wird für das Jahr 1922 eine Mitgliedszahl der AAUE von 75.000 genannt (Berlin 2014, S. 535.) Bei Wikipedia können wir lesen: „Über die Mitgliederzahlen gibt es keine genaueren Angaben, die von Pfemfert genannten anfänglichen 60.000 Mitglieder dürften jedoch übertrieben gewesen sein.“ (Wikipedia, Stichwort: Allgemeine Arbeiter-Union-Einheitsorganisation.)
Aber die soziale Basis von zehntausenden revolutionären ProletarierInnen und Intellektuellen (neben Rühle und Pfemfert zum Beispiel der Dichter Oskar Kanehl und der bekannte Strafverteidiger in politischen Prozessen, James Broh) konnte die AAUE in der Phase der relativen Stabilisierung des deutschen Kapitalismus ab 1924 nicht erhalten. Nach dem endgültigen Sieg der Konterrevolution waren revolutionäre Klassenkampforganisationen eine objektiv-subjektive Unmöglichkeit. Jetzt konnten sich bewusste SozialrevolutionärInnen nur noch in kleinen Gruppen organisieren. Der heutige konsequent antipolitische Kommunismus nennt sie antipolitisch-sozialrevolutionäre Gruppen. In der Weimarer Republik hatten viele SozialrevolutionärInnen noch die Illusionen, dass sich bald wieder eine neue Revolution entwickeln würde. Die AAUE strebte das Aufgehen in einem neuen Rätesystem an. Doch real verlor sie ihre Massenbasis und spaltete sich in einzelne Richtungen und Gruppen auf.
Da entwickelte sich zum Beispiel die individualistische und organisationsfeindliche Heidenauer Richtung, die sich 1923 selbst auflöste. Außerdem entwickelte sich noch die opportunistisch-sozialreformistische Zwickauer Richtung, die für die Teilnahme an den gesetzlich-sozialpartnerschaftlichen Betriebsräten eintrat. Diese opportunistische Tendenz verließ 1923 die AAUE in Richtung der anarcho-reformistischen Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD, siehe 1. Teil, Kapitel II.5).
Rühle brach 1925 mit der AAUE, weil er sich opportunistisch an die Individualpsychologie anpasste, mit der er dem Proletariat das autoritäre Bewusstsein austreiben wollte. Er erkannte nicht, dass nur der Klassenkampf die kollektive Therapie des Proletariats vom autoritär-bürgerlichen Sein und Bewusstsein sein konnte. Die von bewussten RevolutionärInnen angewandte Psychologie kann dabei nur ein Hilfsmittel sein – nachdem sie vorher aus einer bürgerlichen Wissenschaft zu einem Teil einer revolutionären Theorie umgeformt worden ist. Revolutionär wirken kann die Psychologie nur als Sozialpsychologie und Bestandteil der materialistisch-dialektischen Weltbetrachtung. Rühles Individualpsychologie war zu schematisch, zu biologistisch und eben zu stark auf das Individuum zugeschnitten, um diesen Anspruch erfüllen zu können. Da die Mehrheit der AAUE berechtigterweise von Rühles Individualpsychologie nicht viel hielt, kam es 1925 zum Bruch. Rühle blieb auch nach diesem seinen rätekommunistischen Überzeugungen treu.
Franz Pfemfert, der 1925 in dem Konflikt mit Rühle noch auf der Seite der AAUE-Mehrheit stand, brach später ebenfalls mit dieser. Auch dieser Pionier des Rätekommunismus war den psychischen und geistigen Anforderungen an RevolutionärInnen nach dem Triumpf der Konterrevolution nicht gewachsen. So spaltete sich Pfemfert Ende der 1920er /Anfang der 1930er Jahre mit einem Teil der AAUE von dieser ab und verschmolz mit einer radikalen „K“PD-Abspaltung um Iwan Katz zum Spartakusbund II. Diese Organisation reproduzierte durch eine „kritische“ Wahlunterstützung der „K“PD wieder den Parlamentarismus und die opportunistische Anpassung an den Partei-„Kommunismus“, war also ein Ausdruck des geistigen Niederganges als einer Folge der siegreichen Konterrevolution.
Außerdem entwickelte sich in der AAUE eine „2. Zwickauer Richtung“ um die Wochenzeitungen Proletarischer Zeitgeist (Zwickau)und Von Unten Auf. Laut Wikipedia zeigte sie „Nähe zu anarchistischen Positionen und starke Intellektuellenfeindlichkeit. 1924 schloss sich dieser Organisation eine Gruppe ehemaliger KPD-Mitglieder um Ketty Guttmann und konnte sich bis zur teilweisen Zerschlagung während der Zeit des Nationalsozialismus halten. Die Hamburger Gruppe um Otto Reimers gab in der Illegalität bis Mitte 1934 den Mahnruf heraus, anderen lokalen Gruppen gelang es teilweise die NS-Zeit zu überdauern. (…) Versuche der Strömung um den Proletarischen Zeitgeist, nach 1945 in der Zwickauer Region die Organisation wieder herzustellen, wurde 1948 repressiv unterbunden, der leitende Aktivist der Gruppe, Willhelm Jelinek, starb 1952 unter ungeklärten Umständen im Zuchthaus Bautzen.“
Die progressivste Tendenz der AAUE war die rätekommunistische Frankfurt-Breslauer Richtung, die mit Otto Rühle im Kontakt blieb und im Jahr 1931 mit den Resten der AAUD – diese trennte sich 1929 von der niedergehenden KAPD – zur Kommunistischen Arbeiter-Union Deutschlands (KAUD) verschmolz. Diese rätekommunistische Organisation verfügte natürlich nicht mehr über eine proletarische Massenbasis wie die beiden ArbeiterInnenunionen in der revolutionären Nachkriegskrise. In nichtrevolutionären Zeiten können revolutionäre Organisationen nur wenige Mitglieder haben. So konnten nur wenige die Transformation von der einstigen revolutionären Klassenkampforganisation AAUD über die Spaltung und schließlich erfolgende Wiedervereinig zur KAUD mit vollziehen, die sich bewusst als Gruppe einer sozialrevolutionären Minderheit organisierte. Die KAUD hatte bei ihrer Gründung 343 Mitglieder. Diese Minderheit, welche die Kontinuität des revolutionären Bewusstseins auch in nichtrevolutionären Zeiten verkörperte, konnte natürlich nach der kampflosen Kapitulation des Proletariats in Deutschland gegenüber den Nazis, welche SPD und „K“PD 1933 organisierten, nicht mehr lange bestehen.
Diese Organisation stellte in der Haupttendenz eine revolutionäre Alternative zu Parteimarxismus und Anarchosyndikalismus dar. So heißt es in ihrer Schrift Was will die Kommunistische Arbeiter-Union (KAU)? aus dem Jahre 1932 völlig richtig: „Gewerkschaft und Partei sind historische Erscheinungsformen. Auf Grund ihrer organisatorischen Struktur müssen sie an einer bestimmten Stufe der kapitalistischen Entwicklung versagen, weil ihr Organisationssystem dem Kapitalismus entlehnt ist.“ Dazu ist noch zu sagen, dass auch die radikalsten Parteien (KAPD) und Gewerkschaften (I.W.W.) objektiv keine Organe der sozialen Revolution sein konnten, aber die reaktionärsten Parteien und Gewerkschafen der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung durchaus nicht versagten, sondern zumindest für eine längere Zeit hervorragend für die Kapitalvermehrung funktionierten und funktionieren.
Leider hatte die KAUD trotz ihrer Gewerkschaftskritik gewisse syndikalistische Tendenzen. So schlossen sich die KAUD und die IWW in Deutschland zu einem Kartell zusammen. Aus heutiger Sicht war es ein Fehler, dass die KAUD der anarchosyndikalistischen FAUD, die in den 1920er Jahren klar in ihrer Anpassung an die gesetzlichen Betriebsräte ihre sozialreformistisch-opportunistischen Tendenzen gezeigt hatte (siehe 1. Teil, Kapitel II.5), ein festes Bündnis „gegen Faschismus und Reaktion“ vorschlug, was die AnarchosyndikalistInnen aber ablehnten. Diese Bemühungen der KAUD zeigten jedoch deren Schwächen. Aus unserer heutigen Sicht geht eine Gruppe der sozialrevolutionären Minderheit, die die KAUD objektiv war, niemals feste Bündnisse mit marxistischen Parteien und anarchosyndikalistische Gewerkschaften ein. Die proletarischen Mitglieder von antipolitisch-sozialrevolutionären Gruppen nehmen natürlich am Klassenkampf teil, ohne sich an dessen reproduktiven Grenzen opportunistisch anzupassen (siehe Kapitel IV.2). Das Bündnisangebot an die FAUD zeigt deutlich, dass sich die KAUD nicht im ausreichenden Maße der Aufgabe von SozialrevolutionärInnen in nichtrevolutionären Zeiten bewusst war.
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1920/21 stellten sich keine bekannten SozialrevolutionärInnen der Niederlande auf die Seite der parteifeindlichen Strömung um Rühle und Pfemfert in Deutschland. Erst später, im Jahre 1927 begann sich mit dem Niedergang der KAPN (siehe Kapitel III.5) die Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) als klare parteifeindliche Strömung herauszubilden. Die GIK nannte damals die Organisation der SozialrevolutionärInnen „Arbeitsgruppe“ und lehnte den Parteibegriff klar ab, wenn auch diese Organisation sich noch nicht als antipolitische verstand. So schrieb das Gründungsmitglied der GIK Henk Canne Meijer: „Wenn mit dem Begriff ,Partei‘ der spezifische Herrschaftscharakter der Partei, die neuen Arbeitsgruppen aber gerade dagegen ihre Propaganda richten und auch, insofern sie ein politisches Programm haben, sich im völligen Gegensatz zu den bekannten Parteiauffassungen befinden, haben die neuen Arbeitsgruppen mit dem, was man unter ,Partei‘ versteht, so gut wie nichts gemein. Sie sind davon wesentlich verschieden und können darum nicht als Parteien angesehen werden. Wir nennen sie vorläufig Arbeitsgruppen und müssen es der weiteren Entwicklung überlassen, welchen Namen sie schließlich erhalten.“ (Henk Canne Meijer, Das Werden einer neuen Arbeiterbewegung, in: Anton Pannekoek/Willy Huhn/Henk Canne Meijer/Paul Mattick, Partei und Revolution, Karin Kramer Verlag o.J., Westberlin, S. 38.)
Während des Zweiten Weltkrieges hörte die GIK auf zu bestehen, aber einige ihrer Mitglieder waren in den linkskommunistischen Organisationen Marx-Lenin-Luxemburg-Front (MLLF) und Spartacus-Bund (ab 1944, siehe Kapitel III.5) aktiv. Durch den Communistenbond Spartacus wurde die klare Haltung des Rätekommunismus gegenüber der Partei als Organisationsform vorübergehend wieder aufgegeben. So war die größte geistige Errungenschaft der europäischen revolutionären Nachkriegskrise, nämlich die Erkenntnis, dass die Partei eine bürgerliche Organisationsform darstellt, durch den Sieg der Sozialreaktion danach für ein paar Jahre verlorengegangen.
Durch Paul Mattick (1904-1981) entwickelte sich der Rätekommunismus auch in den USA. Mattick wirkte in den 1920er Jahren in der KAPD und der AAUD mit – die Bedeutung der Kritik Rühles an der Parteiorganisation hatte er nie verstanden – und emigrierte Mitte der 1920er Jahre in die USA, wo er seinem leicht parteiförmigen und syndikalismusnahen, aber auch antileninistischen Rätekommunismus treu blieb. In den 1920er Jahren hielt Mattick auch in den USA die Kontakte zu der KAPD und der AAUD aufrecht. Er beschäftigte sich besonders mit der Kapitalismuskritik von Marx. Im Gegensatz zu den KonsumtionskrisentheoretikerInnen hielt er sein ganzes Leben daran fest, dass die Profitproduktion das Zentrum einer materialistischen Krisentheorie zu sein hat. Er war sich der großen Bedeutung der kapitalistischen Krisendynamik für den proletarischen Klassenkampf bewusst.
Gegen Ende der 1920er Jahre zog Mattick nach Chicago. Dort strebte er an, die verschiedenen deutschsprachigen ArbeiterInnenverbände zu vereinigen. Er war auch hochaktiv in der Arbeitslosenbewegung, die sich als Folge der Weltwirtschaftskrise entwickelte. Diese Bewegung wurde vom US-Staat durch brutale Repression und staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des New Deal zerschlagen. Mattick wurde Mitglied der radikalgewerkschaftlichen Indsutrial Workers of the World (IWW). Er schrieb auch 1933 deren Programm Die Todeskrise des kapitalistischen Systems und die Aufgaben des Proletariats. Im Jahre 1934 gründete Mattick zusammen mit Freunden aus der IWW sowie den Ausgeschlossenen aus der leninistischen Proletarian Party die United Workers Party. Dies zeigte deutlich, dass Mattick den Parteimarxismus nicht hinter sich gelassen hatte. Doch durch Kontakte zur konsequent parteifeindlichen GIK in den Niederlanden, wurde diese Partei später in Group of Council Communists umbenannt. Aber bei Mattick gab es wahrscheinlich nie wirklich einen Bruch mit dem Parteimarxismus, wie auch Äußerungen von ihm nach dem Zweiten Weltkrieg nahelegen (siehe weiter unten in diesem Kapitel). Die Group of Council Communists gab in den 1930er Jahren die Zeitschrift International Council Correspondenze heraus, das war die US-amerikanische Parallele zu dem Organ Rätekorrespondenz der GIK. Auch der Linkskommunist Karl Korsch hatte enge Kontakte zu den US-amerikanischen RätekommunistInnen. Mattick stand mit Korsch seit 1935 in Kontakt. Nach dem Verschwinden des Rätekommunismus als organisierte Kraft in Europa benannte Mattick 1938 die International Council Correspondenze 1938 in Living Marxism und ab 1942 in New Essays um. Auch die Group of Council Communists überlebte den Zweiten Weltkrieg nicht. Mattick war auch als isolierte Einzelperson ein konsequenter Gegner des Eintritts der USA in den Zweiten Weltkrieg.
Dieser und der Kalte Krieg, der in den USA zu einem massiven Antikommunismus führte, isolierten Mattick zu einer radikalen Einzelperson. Er zog aufs Land und schlug sich durch Gelegenheitsjobs und seiner Tätigkeit als Schriftsteller durch. Paul Mattick begann sich ab den 1940er Jahren mit dem Ökonomen Keynes kritisch zu beschäftigen, der den wachsenden Staatsinterventionismus innerhalb des Privatkapitalismus ideologisierte. 1969 erschien Matticks sehr verdienstvolles Werk Marx and Keynes. The Limits of Mixed Economy, welches später auch auf Deutsch erschien. Mattick wies in diesem Buch nach, dass der Staatsinterventionismus nicht wirklich die Profitproduktionskrise eindämmen konnte, sondern diese im Gegenteil mit hervorbrachte, was die strukturelle Profitproduktionskrise in Nordamerika und Westeuropa ab 1974 bestätigte. Durch das kleinbürgerlich-radikale und proletarische 1968 – die StudentInnenbewegung und der radikalisierte Klassenkampf am Ende des kapitalistischen Nachkriegsaufschwunges – wurde auch Mattick aus seiner Isolation befreit.
Auch in den Niederlanden wurde der Rätekommunismus nach dem Zweiten Weltkrieg als eigenständige theoretische Strömung wiedergeboren. Im Dezember 1964 spalteten sich traditionelle Rätekommunisten wie Cajo Brendel, Theo Maassen und Jupp Meulencamp vom linkskommunistischen Spartacusbond (siehe Kapitel III.5) ab und gaben die theoretische Monatszeitschrift Daad en Gedachte heraus. Diese existierte bis Ende der 1990er Jahre. Cajo Brendel (1915-2007) wurde zu einem bedeutenden Theoretiker des Rätekommunismus, der sich Zeit seines geistigen Schaffens in den von Pannekoek geschaffenen Bahnen bewegte. Er hielt bis zu seinem Tod daran fest, dass die Partei- und Gewerkschaftsorganisation unvereinbar mit der proletarischen Selbstorganisation im Klassenkampf war. Allerdings fiel Cajo Brendel hinter der Position der KAUD und der GIK zurück, indem er die Bedeutung der bewusst revolutionären proletarischen Minderheiten und den von ihnen organisierten Gruppen immer weniger Bedeutung beimaß. Dagegen überschätzte er die Bedeutung von Spontaneität und Klasseninstinkt für den revolutionären Prozess auf geradezu groteske Weise. Mit Cajo Brendel starb der traditionelle Rätekommunismus als theoretische Strömung in den Niederlanden.
In Deutschland entwickelte sich Willy Huhn (1909-1970) nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem bedeutenden rätekommunistischen Theoretiker. Er war der Sohn eines deutschnationalen Polizeibeamten. Seine Familie wurde 1919 aus Metz ausgewiesen. Sie siedelte nach Berlin über. Dort arbeitete Willy Huhn als kaufmännischer Angestellter. Im Jahre 1929 starb sein Vater. Nach dessen Tod tat er das, was sein Vater davor verboten hatte: er wurde am linken Flügel der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung aktiv. Zunächst trat Huhn dem linkssozialdemokratischen Zentralverband der Angestellten bei, im Jahre 1930 dann der Jugendorganisation der SPD, der Jungsozialistischen Vereinigung Groß-Berlins. Die sozialdemokratischen Politbonzen lösten jedoch diese Organisation auf, da sie für die SPD zu radikale Positionen vertrat. Huhn wurde 1931 Mitglied der Linksabspaltung der SPD, der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). Dort hatte er auch Kontakt zu den linkskommunistischen Roten Kämpfern, die am Ende der Weimarer Republik in SPD und SAPD wirkten (siehe Kapitel III.5).
Während des deutschen Faschismus wurde Huhn kurzzeitig 1933 und 1934 inhaftiert. Als Einzelgänger analysierte er während der Nazidiktatur die staatsinterventionistischen und staatskapitalistischen Tendenzen des Weltkapitalismus und dessen Subjekte Sozialdemokratie, Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Durch die Isolierung in feindlicher Umgebung, entwickelte sich Huhn allerdings während des Zweiten Weltkrieges in eine gefährliche Richtung. Diese bestand darin, dass er 1942 in für einen Freund geschriebenen Essay die angebliche „geschichtliche Notwendigkeit des Ostfeldzugs“ der Nazis rechtfertigte. Das war natürlich sozialreaktionär – genau wie die antifaschistische Kriegstreiberei des Kremlnahen Partei-„Kommunismus“. Wirkliche KommunistInnen mussten gegen alle Seiten des imperialistischen Gemetzels kämpfen. „Später war sich Huhn im Klaren, dass er der Nazi-Propaganda auf dem Leim gegangen war.“ (Felix Klopotek, Rätekommunismus. Geschichte – Theorie, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2021, S. 152.)
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Willy Huhn in der SBZ und Westberlin ein bekannter rätekommunistischer Theoretiker. Bei Wikipedia können wir daüber lesen: „Nach 1945 schloss er sich zunächst unter Beibehaltung seiner rätekommunistischen Ansichten der KPD und 1946 der SED an und war bis 1948 als Lehrer und Leiter von Volkshochschulen in Ostberlin und Gera tätig. Nach seiner Übersiedlung nach West-Berlin 1948 arbeitete er am dortigen August Bebel Institut. 1951 wurde er wieder arbeitslos. 1954 wurde er aus der SPD, der er 1948 wieder beigetreten war, ausgeschlossen, da er deren Rolle in der Novemberrevolution kritisiert hatte. Von 1950 bis 1952 war er Chefredakteur der Zeitschrift Pro und contra. In den Jahren 1954/55 war er Mitglied im Arbeitsausschuss der Internationale der Kriegsdienstgegner (IDK). Danach schrieb er überwiegend in kleinen linkssozialistischen Periodika.
In den 1960er Jahren avancierte Huhn zusammen mit dem zwanzig Jahre jüngeren Michael Mauke zu einem Stichwortgeber und Mentor des dezidiert marxistischen Flügels des SDS. Willy Huhn zählt somit zu den ganz wenigen Personen, die die Verbindung zwischen der neuen Linken und dem radikalen Teil der alten Arbeiterbewegung der Weimarer Republik aktiv verkörperten (…). Zu Huhns Schülern gehörte Christian Riechers, der ab Ende der 60er Jahre als erster (west-)deutscher Antonio Gramsci-Forscher bekannt wurde. (Anmerkung von Nelke: Später näherte sich Riechers dem italienischen Linkskommunismus an.) Huhn erarbeitete für seinen Schülerkreis mehrere Dutzend Manuskripte, die sich verschiedenen zeitgeistigen Fragen (u.a. Deutschland und die Kriegsschuldfrage) und Aspekten der marxistischen Kritik (u.a. Marx und Engels zur polnischen Frage) widmeten. Diese Manuskripte kursierten als hektographierte Typoskripte. Stil und Arbeitsweise lehnte Huhn bewusst an die politischen Schriften von Karl Marx an (Herr Vogt, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Der Bürgerkrieg in Frankreich). Exzerpte, kommentierte Zitatsammlungen, freie Explikation des Themas gehen bei Huhn ineinander über.
Huhn war ein Vertreter des revolutionären Defätismus: Er war ein unerbittlicher Kritiker des deutschen Nationalismus in allen Schattierungen, ohne sich positiv auf die West- oder Ost-Mächte zu beziehen.
Während der 1968er-Rebellion wurde Huhn von den Linken wegen seines großen Wissens bewundert, doch er stand der Bewegung auch kritisch gegenüber. Die Projektgruppe Räte im SDS (Mitarbeit u.a. Bernd Rabehl) ist maßgeblich von Huhn inspiriert worden. 1970 starb er nach längerer Krankheit.“ (Wikipedia, Stichwort Willy Huhn.)
Unsere Kritik an Huhn: Er war zwar ein scharfer Kritiker der Sozialdemokratie und des Bolschewismus, aber er lehnte die Partei nicht grundsätzlich als bürgerlich-bürokratische Organisation ab. Er war ja auch Mitglied der verschiedenen Parteien (in der Weimarer Republik SAPD, in der sowjetischen Besatzungszone „K“PD/SED und in Westberlin SPD) beziehungsweise hatte zu Beginn der 1930er Jahre Kontakt zu den Roten Kämpfern. Auch sein relativ starkes Engagement in der kleinbürgerlich-radikalen Studierendenbewegung von „1968“ – deren spätere marxistisch-leninistische Entartung in den 1970er Jahren alles andere als zufällig war, sondern Ausdruck des kleinbürgerlich-reaktionären Charakters der meisten Linksintellektuellen – muss aus revolutionärer Sicht kritisiert werden. Für Huhn stellte fälschlicherweise der Parteimarxismus einer Rosa Luxemburg eine revolutionäre Alternative zum Leninismus dar (siehe weiter unten in diesem Kapitel).
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Der Rätekommunismus in Deutschland, in den Niederlanden und in den USA war während der 1930er Jahren mit dem rechtsreaktionären Faschismus, dem linksreaktionären Antifaschismus und dem spanischen BürgerInnenkrieg konfrontiert. Er war leider in diesen Fragen nicht so klar und eindeutig wie der italienische Linkskommunismus (siehe Kapitel III.5).
So wandte Rühle den Faschismus-Begriff auch auf den leninistischen Partei-„Kommunismus“ an, wie mensch bei seiner Schrift Brauner und Roter Faschismus (veröffentlicht in: Gottfried Mergner, Otto Rühle: Schriften. Perspektiven einer Revolution in hochindustrialisierten Ländern, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 8-71) schon am Titel unschwer erkennen kann. Den sowjetischen Staatskapitalismus und Stalinismus als „roten Faschismus“ zu bezeichnen, ist einfach eine sehr ungenaue Begrifflichkeit und gleichzeitig ein gefundenes Fressen für demokratische AntikommunistInnen sowie ihres libertär-anarchistischen Schwanzes. Und für stalinistische AntifaschistInnen gibt das Ganze auch ein willkommener Vorwand, um die revolutionäre Bolschewismus-Kritik mit bürgerlichem Antikommunismus auf eine Stufe zu stellen und ein großes moralisierendes Geschrei zu veranstalten, dass die RevolutionärInnen sie angeblich mit FaschistInnen gleichsetzen würden. Doch so etwas machen wir heutigen SozialrevolutionärInnen natürlich nicht. Für uns sind die nachstalinistischen Partei-„KommunistInnen“ selbstverständlich keine „roten FaschistInnen“, sondern ganz miese LinksreaktionärInnen. Obwohl Rühle sich des Unterschiedes zwischen dem im nationalsozialistischen Deutschland vorherrschenden Privateigentum an Produktionsmitteln und dem Staatseigentum in der Sowjetunion bewusst war, nannte er auch das Naziregime „staatskapitalistisch“. Das war eine falsche Begrifflichkeit. Der NS-Faschismus war eine Strömung des Staatsinterventionismus beziehungsweise Etatismus auf der Grundlage des Privateigentums. Staatskapitalistisch war die UdSSR, aber nicht der Faschismus.
Gänzlich auf dem analytischen Holzweg war Rühle mit seiner Schrift Weltkrieg – Weltfaschismus – Weltrevolution (veröffentlicht in: Gottfried Mergner, Otto Rühle: Schriften. Perspektiven einer Revolution in hochindustrialisierten Ländern, a.a.O., S. 73-175.) angekommen. Hier wird nicht nur die falsche Gleichsetzung von Staatskapitalismus und Faschismus fortgeführt, sondern auch völlig danebenliegend die besondere Entwicklung des faschistischen Italiens und des nationalsozialistischen Deutschlands auf den gesamten Privatkapitalismus verallgemeinert. Nach Rühle war die parlamentarische Demokratie die kapitalistische Staatsform der Vergangenheit und der Faschismus die der Gegenwart und der Zukunft. Er sah einen drohenden Weltfaschismus. Der antifaschistisch-reaktionären Verteidigung der Demokratie als kapitalistische Staatsform gegen den Faschismus durch die Liberalen, SozialdemokratInnen, StalinistInnen und TrotzkistInnen stellte er zwar den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus gegenüber, aber Rühle bekämpfte den reaktionären Antifaschismus mit dem falschen Argument, dass die kapitalistischen Demokratien von heute zwangsläufig die faschistischen Regimes von morgen wären und es keinen Sinn hätte, die Vergangenheit gegen die Gegenwart zu verteidigen. Die weltfaschistische Gegenwart ließe sich nur durch die weltkommunistische Zukunft bekämpfen. Das war extremer Schematismus, mit dem sich Demokratie und Faschismus als kapitalistische Staatsformen nur schwer bekämpfen ließen. Auch kleinbürgerlich-demokratische Tendenzen lassen sich in Rühles „Weltfaschismus“-Ideologe finden. Aus der richtigen Beobachtung, dass in Deutschland ohne Putsch, aber ganz rechtsstaatlich-legal die Demokratie in den NS-Faschismus transformiert wurde, schloss Rühle, dass dies auch in den anderen kapitalistischen Ländern so ähnlich laufen würde. So nannte er die repressiven Tendenzen in den kapitalistischen Demokratien „faschistisch“. Das ist die typische Manier aller kleinbürgerlichen DemokratInnen ihr unbeflecktes demokratisches Ideal gegen die massenmörderische Wirklichkeit der Demokratie als sozialreaktionäre kapitalistische Staatsform zu verteidigen. Die Gräueltaten der Demokratie werden als „undemokratisch“ und „faschistisch“ bezeichnet.
Wenn der globale Kapitalismus angeblich auf den „Weltfaschismus“ zu tendierte, selbst der Bolschewismus nichts anderes als „roter Faschismus“ darstellte, wozu dann noch den Antifaschismus als konterrevolutionäre Ideologie kritisieren? Paul Mattick besetzte diesen Begriff 1945 dann auch positiv und erklärte den Rätekommunismus zur Avantgarde des Antitotlitarismus: „Rühle zweifelte nicht daran, dass Totalitarismus für die Arbeiter schlimmer war als die bürgerliche Demokratie. Er hatte von Anfang an den bolschewistischen Totalitarismus bekämpft; er bekämpfte auch den deutschen Faschismus, aber nicht im Namen der bürgerlichen Demokratie, denn er wusste, dass über kurz oder lang die bürgerliche Demokratie in Faschismus oder Staatskapitalismus umschlüge.“ (Paul Mattick, Otto Rühle und die deutsche Arbeiterbewegung, in: Derselbe, Spontaneität und Organisation. Vier Versuche über praktische und theoretische Probleme der Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main 1975,S. 36/37.)
Als erstes fällt hier die völlig schematische Gegenübersetzung von Demokratie und Totalitarismus auf. Für SozialrevolutionärInnen gibt es keinen Gegensatz zwischen Demokratie und Totalitarismus, weil auch in der Demokratie die Herrschaft der Ware-Geld-Beziehung über die menschlichen Bedürfnisse unumschränkt und totalitär ist, genauso wie die soziale Herrschaft des Kapitals über das Proletariat oder die Herrschaft der Politik über die gesamtgesellschaftliche Organisation. Der demokratische Totalitarismus ist lediglich geschickter und verschleierter als der „kommunistisch“-staatskapitalistische oder der faschistische/nationalsozialistische.
Diese falschen Ansichten Rühles über einen Weltfaschismus wurden damals auch von in der Illegalität agierenden deutschen RätekommunistInnen vertreten. Der bedeutendste Theoretiker des Rätekommunismus, Anton Pannekoek, trat dieser Ideologie vom Weltfaschismus scharfsinnig und konsequent entgegen. In der Schrift Staatskapitalismus und Diktatur (abgedruckt in: Anton Pannekoek, Arbeiterräte. Texte zur sozialen Revolution, Germinal Verlag, Fernwald (Annerod) 2008, S. 530-540) aus dem Jahre 1936 unterschied Pannekoek klar zwischen dem auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Staatsinterventionismus und dem Staatskapitalismus (Sowjetunion). Auch der falschen Verallgemeinerung, dass weltweit der Übergang von der Demokratie zum Faschismus bevorstehe, trat er bewusst entgegen.
Die praktische Probe des spanischen BürgerInnenkrieges, wo SozialrevolutionärInnen sowohl das antifaschistische Volksfront-Regime und den sowjetischen Imperialismus als auch die putschenden spanischen Generäle sowie den italienischen und deutschen Faschismus bekämpfen mussten, bestanden zwar Mattick und die Group of Council Communists in den USA, aber nicht die GIK in den Niederlanden. Mattick schrieb im Jahre 1937: „Die Volksfront ist nicht ein geringeres Übel für die Arbeiter. Es ist nur eine weitere Form der kapitalistischen Diktatur in Ergänzung zum Faschismus. Der Kampf muss gegen den Kapitalismus geführt werden.“ (Zitiert nach Red Devil, Widerworte – Gegen die kapitalistische Verfasstheit der Gesellschaft. Historische Texte, Bibliothek des Widerstandes, Lübeck 2010, S. 32.)
Allerdings verlor der niederländische Rätekommunismus teilweise die Orientierung und ihre US-amerikanischen GesinnungsgenossInnen kritisierten dies nicht in der notwendigen Schärfe. Die Groups of Council Communists gaben ab 1934 die International Council Correspondence heraus. In dieser Zeitung war auch ein Artikel der holländischen RätekommunistInnen, der GIK, abgedruckt, der teilweise gegenüber der antifaschistischen Sozialreaktion kapitulierte. So hieß es in dem Text zwar, dass die proletarische Revolution nur „siegreich sein kann, wenn sie international ist“, andernfalls werde sie „mit Waffengewalt niedergeworfen oder durch die imperialistischen Interessen deformiert werden“, aber eben auch: „Die spanischen Arbeiter können sich nicht erlauben, effektiv gegen die Gewerkschaften zu kämpfen, denn das würde zu einem vollständigen Scheitern an den militärischen Fronten führen. Sie haben keine Alternative. Sie müssen gegen die Faschisten kämpfen, um ihr Leben zu retten, sie müssen jede Hilfe, gleichgültig woher sie kommt, akzeptieren.“ (H. Wagner, Anarchism and the Spanish Revolution, in: International Council Correspondence Nr. 5/6, Juni 1937.) Als ob der Antifaschismus nicht genau so blutig das Leben der ArbeiterInnen gefährdete!
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Der heutige Kommunismus muss notwendig antipolitisch sein. Dies beinhaltet vor allem zwei Dinge: Erstens lehnt er die politische Partei als Organisationsform für das klassenkämpferische Proletariat und die SozialrevolutionärInnen ab. Zweitens sieht er das Wesen der sozialen Revolution nicht in der „politischen Machteroberung des Proletariats“, sondern in der antipolitischen Zerschlagung des Staates durch das sich selbst revolutionär aufhebenden Proletariats (siehe Kapitel V.5). Der antipolitische Kommunismus überwindet also konsequent den Parteimarxismus. Während der historische Rätekommunismus nicht bewusst antipolitisch war und deshalb auch nicht konsequent genug mit dem Parteimarxismus brach.
Die parteifeindliche AAUE überwand sowohl Parlamentarismus und Putschismus. Aber sie verstand sich noch nicht als bewusst antipolitisch, sondern als ökonomisch-politische Einheitsorganisation. Mit den Worten von Otto Rühle: „Der revolutionäre Einheitskampf, geführt von politischen Parteien ohne wirtschaftliche Organisationen endet mit dem Misserfolg – die deutsche Revolution seit 1918 beweist es. Aber ebenso muss der revolutionäre Einheitskampf mit einem Fiasko enden, wenn nur die wirtschaftlichen Organisationen aktiv vorgehen, dagegen die politischen Parteien versagen – Italien und die fehlgeschlagene Aktion der Syndikalisten sind dafür Beweis genug. Hier wie dort wurde die Niederlage verschuldet dadurch, dass ein Flügel der organisierten Arbeiterschaft lahm blieb – in Deutschland der wirtschaftliche (die Expropriation der Betriebe, Bergwerke, Banken, Ländereien unterblieb, während die politischen Positionen in unseren Händen waren), in Italien der politische (die Arbeiter waren Herr der Betriebe, sie unterließen aber, Regierung, Parlament, Polizei, Militarismus usw. zu beseitigen). Hätte eine Einheitsorganisation bestanden, wäre dies unmöglich gewesen. Sie hätte in Deutschland, indem sie politisch siegte, sich ganz von selbst wirtschaftlich verankert, und in Italien, indem sie wirtschaftlich Fuß fasste, ganz von selbst ihre politische Manifestation gefunden. Der Dualismus der proletarischen Organisationen ist ein Erbteil aus vorrevolutionärer Zeit, das heute in der revolutionären Phase zum Verhängnis der Arbeiterklasse wird. Er muss verschwinden und der Einheit Platz machen. Einheitskämpfe verlangen Einheitsorganisationen.“ (Otto Rühle, Grundfragen der Organisation, 1970, S. 36.)
Diese Aussagen Rühles sind aus heutiger sozialrevolutionärer Sicht reichlich konfus. Sie belegen, dass Otto Rühle und die AAUE noch nicht bewusst antipolitisch waren. Rühle bewegte sich irgendwo zwischen Parteimarxismus und einem bewusst antipolitischen Kommunismus. Aus dem Zitat geht hervor, dass er noch mit dem Parteimarxismus die falsche Vorstellung teilte, dass das Wesen der sozialen Revolution „die politische Machteroberung der ArbeiterInnenklasse“ sei. Doch das Proletariat kann die politische Macht gar nicht erobern. Das können nur sozialdemokratische oder „kommunistische“ BerufspolitikerInnen im Namen des Proletariats. Und sozialdemokratische und „kommunistische“ Regierungen konnten nur den Kapitalismus in privater oder verstaatlichter Form reproduzieren. Der heutige antipolitische Kommunismus tritt für die zukünftige antipolitische Zerschlagung des Staates durch das sich selbst revolutionär aufhebende Proletariat ein.
Völlig konfus ist Rühles Behauptung, dass in Deutschland 1918/19 „die politischen Positionen in unseren Händen“ gewesen seien. In Gesamtdeutschland lag 1918/19 die politische Macht bei der SPD, die sie im Interesse der Bourgeoisie konterrevolutionär ausübte. Die politische Macht der verschiedenen lokalen Räterepubliken (Bremen, München) lag entweder in den Händen von konfusen AnarchistInnen, oder in den von politischen Parteien (SPD, USPD und KPD). Die Bremer und die 2. Bayerische Räterepublik waren Mischprodukte aus einer Radikalisierung des Klassenkampfes und der Errichtung von embryonalen staatskapitalistischen Regimes.
Zu Rühles Ausführungen zu der revolutionären Nachkriegskrise in Italien 1919/1920: Es ist richtig, dass sich in diesem Land ArbeiterInnenräte bildeten, die die Betriebe besetzten. Aber diese Betriebsbesetzungen waren weder mit der antipolitischen Zerschlagung des Staates noch mit der Aufhebung der Warenproduktion verbunden. Beide zusammen bilden möglicherweise in der Zukunft die notwendigen Teilprozesse der revolutionären Selbstaufhebung des Proletariats und der Herausbildung einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft. In Rühles Ausführungen über Italien kommen gewisse antipolitischen Tendenzen zum Ausdruck.
Aber: In nichtrevolutionären Zeiten sollte die Minderheit der bewusst revolutionären ProletarierInnen und Intellektuellen keine ökonomisch-politischen Einheitsorganisationen bilden, sondern sich in antipolitisch-sozialrevolutionären Gruppen organisieren (siehe Kapitel V.1). In revolutionären Zeiten sind revolutionäre Klassenkampforganisationen notwendig, für die die Bezeichnung ökonomisch-politische Einheitsorganisationen eine falsche Begrifflichkeit wäre, weil sie für die revolutionäre Aufhebung der kapitalistischen Ökonomie und der bürgerlichen Politik kämpfen müssen. Die revolutionären Klassenkampforganisationen, die sich nur in und mit den möglichen Revolutionen der Zukunft entwickeln können, haben nicht die Aufgabe der „politischen Machteroberung durch die ArbeiterInnenklasse“, sondern müssen die organisatorische Basis für die antipolitische Zerschlagung des Staates durch das sich revolutionär selbst aufhebende Proletariat sein. Auch scheiterte die europäische revolutionäre Nachkriegskrise nicht an der Nichtexistenz einer ökonomisch-politischen Einheitsorganisation, wie mensch das obige Rühle-Zitat interpretieren könnte, sondern am mangelnden revolutionären Klassenbewusstsein der Mehrheit des Proletariats. Es fehlte keine ökonomisch-politische Einheitsorganisation, sondern das bewusste und organisierte Streben, Warenproduktion und Politik aufzuheben. Politische „ArbeiterInnenparteien“ und Gewerkschaften erwiesen sich nicht deshalb als nicht- und konterrevolutionär, weil sich in ihnen der Dualismus von ökonomischen und politischen Organisationen äußerte, sondern weil sie bürgerlich-bürokratische Organisationen waren und sind, die nur den Kapitalismus reproduzieren können. Rühle erfasste auch mit dem von ihm aufgestellten Ziel der angeblichen Eroberung der ökonomischen und politischen Macht durch die Arbeiterklasse nicht das Wesen der revolutionären Selbstaufhebung des Proletariats.
Schauen wir uns jetzt das Verhältnis des niederländischen Rätekommunismus zum Parteimarxismus an. In den Niederlanden hatte die europäische revolutionäre Nachkriegskrise nicht so große Auswirkungen gehabt. Deshalb hatte dort der Rätekommunismus von Anfang an keine proletarische Massenbasis. Die GIK, die ab 1927 von einer kleinen Minderheit von sozialrevolutionären ProletarierInnen und Intellektuellen getragen wurde, verstand sich nicht als ökonomisch-politische Einheitsorganisation wie die AAUE, sondern als eine Arbeitsgruppe. Das Selbstverständnis der GIK kam dem, was wir als eine antipolitisch-sozialrevolutionäre Gruppe verstehen, schon recht nahe. Der große rätekommunistische Theoretiker der Niederlande, Anton Pannekoek, wirkte am Rande der GIK, war aber nicht aktives Mitglied von ihr. GIK und Pannekoek nannten die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung „alte ArbeiterInnenbewegung“ und die klassenkämpferische Selbstorganisation des Proletariats „neue ArbeiterInnenbewegung“.
Lesen wir, was Pannekoek 1936 über den Unterschied von politischen Parteien und den Arbeitsgruppen schrieb: „Wir sehen erst die allerersten Anfänge einer neuen Arbeiterbewegung emporkommen; der Glaube an die Partei ist das schwerste Hemmnis, das die Arbeiterklasse jetzt machtlos macht. Daher vermeiden wir es, eine neue Partei zu bilden; nicht, weil wir zu wenig sind – jede Partei musste klein anfangen –, sondern weil eine Partei jetzt eine Organisation bedeutet, die die Arbeiterklasse führen und beherrschen will. Demgegenüber stellen wir das Prinzip: die Arbeiterklasse wird nur emporkommen und siegen können, wenn sie selbst ihre Geschicke in die Hand nimmt. Die Arbeiter sollen nicht gläubig die Lösungen eines Anderen, einer Gruppe, auch nicht die unsrigen, sondern selbst denken, selbst handeln, selbst entschließen. Daher betrachten wir ihr als natürliches Organ zur Aufklärung in dieser Zeit des Übergangs die Arbeitsgruppen, die sich selbst bildenden, ihren Weg selbst suchenden Studien- und Diskussionsorganisation.“ (Anton Pannekoek, Partei und Arbeiterklasse, in: Derselbe: Arbeiterräte, a.a.O., S. 498.)
Wir sehen erstens eine große Übereinstimmung zwischen dem, was Pannekoek und die GIK „Arbeitsgruppe“ nannten und wir „antipolitisch-sozialrevolutionäre Gruppe“ nennen: eine kleine Organisation von revolutionären ProletarierInnen und Intellektuellen, die nicht das Proletariat führen, sondern praktisch-geistige Impulse zur klassenkämpferischen Selbstorganisation geben will. Zweitens sehen wir auch den großen Unterschied im Selbstverständnis zwischen GIK und der AAUE. Doch die AAUE entstand in der Revolution und hatte am Anfang eine proletarische Massenbasis. Es ist klar, dass sich zehntausende revolutionäre ProletarierInnen und Intellektuelle größere Aufgaben stellten als ein paar 20 Menschen (GIK). So sah sich die AAUE am Anfang subjektiv als das an, was sie durch den kommenden absoluten Sieg der Konterrevolution und Sozialreaktion objektiv nicht mehr sein konnte: als eine revolutionäre Klassenkampforganisation. Die KAUD verstand dies insofern, dass sie keine „Allgemeine“, sondern eine „Kommunistische Arbeiter-Union“ sein wollte.
Drittens finden wir die Abgrenzung Pannekoeks der „Arbeitsgruppen“ zu den politischen Parteien nicht begrifflich genau genug. Begriffliche Ungenauigkeiten sind meistens der Ausdruck von geistiger Unklarheit. So auch in diesem Fall. Die Kritik an den politischen Parteien von Pannekoek ging nicht genug in die Tiefe. Das lag daran, dass auch die GIK und Pannekoek noch nicht bewusst antipolitisch waren. Sie waren durch ihren prinzipiellen Antiparlamentarismus, der Ablehnung der Partei als Organisationsform für das klassenkämpferische Proletariat und den Zusammenschluss der revolutionären Minderheit schon nicht mehr politisch – aber eben auch noch nicht bewusst antipolitisch. So fehlte in Pannekoeks Analyse die Erkenntnis, dass politische Parteien als Basiseinheiten der bürgerlichen Politik den Kapitalismus nur reproduzieren, aber eben nicht überwinden können. Die begriffliche Gegenüberstellung von politischen Parteien einerseits und den antipolitisch-sozialrevolutionären Gruppen andererseits durch den heutigen bewusst antipolitischen Kommunismus ist wesentlich klarer.
Wir würden auch nie behaupten, dass mensch die antipolitisch-sozialrevolutionären Gruppen auch „Parteien“ nennen könnte. Genau dies schrieb aber Pannekoek über das, was er und die GIK „Arbeitsgruppen“ nannte: „Wenn dabei nun Personen mit gleichen Grundanschauungen sich zusammentun, zur Besprechung der praktischen Möglichkeiten, zur Klärung durch Diskussionen, zur Propaganda ihrer Ansichten, dann kann man solche Gruppen auch Parteien nennen. Der Name ist gleichgültig; das Wesentliche ist, dass in der Sache diese Parteien eine ganz andere Rolle haben als was die Parteien von heute für sich beanspruchen.“ (Anton Pannekoek, Partei und Arbeiterklasse, a.a.O., S. 500.)
Der Name ist eben nicht gleichgültig. Wenn zwei verschiedene, ja sich ausschließende Gebilde, mit dem gleichen Begriff belegt werden, kann dies nur zur geistigen Verwirrung führen. Es geht um begriffliche Klarheit. Wenn mensch etwas anderes will als die politischen Parteien – einschließlich sozialdemokratische und „kommunistische“ –, dann sollte mensch es auch nicht „Parteien“ nennen. Alles andere führt zur begrifflichen Ungenauigkeit und gedanklichen Unklarheit. Die Unklarheit Pannekoeks in der Frage der Partei beruhte darauf, dass Pannekoek noch nicht bewusst antipolitisch war.
Pannekoek überwand die politische Partei als bürgerliche Organisationsform also nicht konsequent genug. Auch den Marxismus, der als Ideologie des kleinbürgerlichen Radikalismus zwischen Kapitalvermehrung und proletarischen Klassenkampf hilflos hin und her schwankte, kritisierte Pannekoek nicht. Und dies obwohl schon der Marxismus des 19. Jahrhunderts von dem dialektischen Widerspruch einer antikapitalistischen Theorie und einer oft nationalkapitalistischen Praxis geprägt war. Ein Widerspruch, der durch die staatskapitalistische Ideologie des Marxismus-Leninismus sozialreaktionär und durch den nachmarxistischen und nachanarchistischen Kommunismus revolutionär gelöst wurde. Pannekoek war sich dieses Widerspruches des Marxismus und des Wirkens von Marx und Engels überhaupt nicht bewusst, wie folgende Aussage belegt: „So ist der Marxismus als Theorie der proletarischen Revolution nur eine Realität und zugleich eine lebendige Kraft in den Köpfen und Herzen des revolutionären Proletariats.“ (Anton Pannekoek, Lenin als Philosoph. Kritische Betrachtung der philosophischen Grundlagen des Leninismus, in: Derselbe: Arbeiterräte, a.a.O., S. 307.)
Auch kritisierte Pannekoek im Alter nicht mehr konsequent genug die Demokratie als politische Herrschaftsform des Kapitals. So übertrieb er in den 1950er Jahren die Bedeutung der bürgerlichen Narrenfreiheiten für den proletarischen Klassenkampf. In dem Artikel Volksdemokratie aus dem Jahre 1950 verteidigte er sogar die bürgerlichen Narrenfreiheiten gegen die staatskapitalistischen Parteidiktaturen Osteuropas! Er schrieb: „Für die moderne Arbeiterklasse in einem hochentwickeltem Land sind diese geistigen Freiheiten wie Redefreiheit, Diskussionsfreiheit und Organisationsfreiheit allerdings – wie die Luft zum Atmen – unabdingbare Voraussetzungen in ihrem Kampf um Freiheit. Für die Arbeiter unter dem westlichen Kapitalismus verkörpert der Begriff Demokratie diese Freiheiten; in den Ländern des Ostens haben sie nur etwas, das, wenngleich in doppelter Ausführung (Anmerkung von Nelke: Pannekoek meint den Begriff „Volksdemokratie“ – also Volksvolksherrschaft), für die Arbeiter bloß ein leerer Name ist.“ (Anton Pannekoek, Volksdemokratie, in: Derselbe, Arbeiterräte, a.a.O., S. 673.)
Der Klassencharakter bürgerlicher Rechte und Freiheiten in einer Demokratie wird von Pannekoek überhaupt nicht mehr analysiert. Pressefreiheit ist zum Beispiel im demokratischen Kapitalismus im Wesentlichen die Freiheit der Bourgeoisie ihre Meinung zu verkaufen, also eine Unterabteilung der Handelsfreiheit, welche auf das Privat-/Staatseigentum an Produktionsmitteln (Druckereien, Redaktionen, Theaterbuhnen, Filmstudios, Internetplattformen…) beruht. Die ArbeiterInnen im Privatkapitalismus besaßen und besitzen die großen Produktionsmittel zur Meinungsproduktion genau so wenig, wie sie diese im staatskapitalistischen Ostblock besaßen. Während die Bourgeoisie durch die bürgerliche Pressefreiheit ihre Meinung verkauft, kaufen die ProletarierInnen die Meinungen einer fremden Klasse. Dadurch wird die ökonomische Klassenherrschaft der Bourgeoisie auch eine geistige. Selbstverständlich haben ArbeiterInnen in einem demokratischen Kapitalismus formal die gleiche Pressefreiheit wie Medienkonzerne. Sollen sie der Bourgeoisie und ihrer Demokratie dafür noch dankbar sein und die bürgerliche Pressefreiheit rühmen?! Nein, proletarische RevolutionärInnennutzen die bürgerliche Pressefreiheit, um ihren Klassencharakter zu demaskieren.
Auch hielt Pannekoek am marxistischen Dogma, dass das Wesen der sozialen Revolution die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat sei, fest. Verdeutlichen wir dies an sein Werk Arbeiterräte. Er schrieb dessen Kern 1941/42. Eine niederländische Ausgabe erschien in zwei Teilen im Jahre 1946, während eine englischsprachige Fassung zuerst seit März 1948 als Beilage der in Melbourne von J.A. Dawson herausgegebenen Zeitschrift Southern Advocate For Workers Councils und schließlich 1950 in Melbourne in Buchform herauskam.
Zunächst muss gesagt werden, dass wir die innere Gliederung von Arbeiterräte nicht für glücklich halten. Pannekoek schildert zuerst die Organisation einer nachkapitalistischen Gesellschaft und erst danach die mögliche Überwindung des Kapitalismus. Das widerspricht der notwendigen Reihenfolge dieser Möglichkeit. Der bewusst antipolitische Kommunismus beginnt seine Schilderung dieser Möglichkeit dagegen immer mit den revolutionären Tendenzen des reproduktiven Klassenkampfes, geht dann zur Skizzierung der möglichen Weltrevolution über und beschreibt schließlich die aus dieser vielleicht hervorgehenden klassen- und staatenlosen Gesellschaft. Auch in dieser Schrift wenden wir diese Darstellungsmethode an. Wir finden, dass auf diese Weise der mögliche weltrevolutionäre Prozess am besten dargestellt werden kann.
Pannekoek dagegen ging in Arbeiterräte den umgekehrten Weg. Zuerst beschrieb er die klassen- und staatenlose Gesellschaft, dann den Kampf des Proletariats und die mögliche soziale Revolution und schließlich den Charakter des Kapitalismus. Pannekoek begründete diese Herangehensweise so: „Mit der Aufgabe der Arbeiterklasse, die Produktion in ihre eigenen Hände zu übernehmen und sie zu organisieren, mussten wir uns zuerst befassen. Zur Durchführung des Kampfes muss man das Ziel in klaren und deutlichen Umrissen vor Augen liegend sehen. Aber der Kampf selbst, die Eroberung der Macht über die Produktion, ist der hauptsächliche und schwierige Teil des Werkes. In diesem Kampf werden sich auch die Arbeiterräte entwickeln.“ (Anton Pannekoek, Arbeiterräte, a.a.O., S. 78.) Das bewusste Ziel der klassen- und staatenlosen Weltgemeinschaft stellt sich jedoch in nichtrevolutionären Zeiten nur eine kleine Minderheit von ProletarierInnen und Intellektuellen. Außerdem kann auf dieses Ziel in der Einleitung oder im Vorwort hingewiesen werden, um dann in der theoretischen Widerspiegelung des möglichen revolutionären Prozesses seiner praktisch notwendigen Reihenfolge zu folgen. Wir halten auch bei der Analyse und Kritik von Pannekoeks Arbeiterräte diese Methode bei. Wir beschreiben also zuerst, wie sich Pannekoek die soziale Revolution vorstellt und dann seine Auffassungen von der klassen- und staatenlosen Gesellschaft.
Für Pannekoek war bereits die soziale Revolution ein globaler und relativ lange andauernder Prozess. Er bestand für ihn in der Zerschlagung des kapitalistischen Staates durch die politische Machteroberung des Proletariats mit Hilfe der ArbeiterInnenräte. Nun, für uns waren die ArbeiterInnenräte die konkrete geschichtliche Form der allgemeinen klassenkämpferischen Selbstorganisation des Proletariats während der europäischen revolutionären Nachkriegskrise. Wir weisen im Kapitel V.4 darauf hin, dass diese proletarisch-klassenkämpferische Selbstorganisation in einem möglichen zukünftigen revolutionären Prozess ganz andere Formen annehmen muss. Zweitens kann die Zerschlagung des Staates nur durch das sich selbst revolutionär aufhebende Proletariat erfolgen. Die soziale Revolution ist eben nicht die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, wie auch noch Pannekoek annahm: „Der wesentliche Inhalt der Revolution der Arbeiterklasse, ähnlich wie bei früheren Revolutionen, besteht in dem Übergang der Herrschaft von einer Klasse auf eine andere.“ (Anton Pannekoek, Arbeiterräte, a.a.O., S. 114.) Nein, eben nicht. Die soziale Revolution kann nur die Selbstaufhebung des Proletariats sein, die zugleich die Fremdaufhebung von KleinbürgerInnentum und Bourgeoisie ist.
Weiterhin schrieb Pannekoek: „Die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiter, die Abschaffung des Kapitalismus, die Einführung eines neuen Rechts, die Aneignung der Unternehmen, der Aufbau der neuen Gemeinschaft, das Schaffen eines neuen Systems der Produktion sind nicht verschiedene, nacheinander stattfindende Ereignisse. Sie finden gleichzeitig nebeneinander statt in einem Prozess gesellschaftlichen Geschehens und gesellschaftlicher Umwandlungen. Oder noch richtiger: Sie sind eins. Sie sind die mit verschiedenen Namen bezeichneten Seiten derselben großen gesellschaftlichen Umwälzung: der Organisation der Arbeit durch die arbeitenden Menschen selbst.“ (Anton Pannekoek, Arbeiterräte, a.a.O., S. 121.)
Pannekoek verwickelte sich hier in Widersprüche: Wenn die politische Machteroberung des Proletariats nur ein anderer Name für die Überwindung des Kapitalismus und die Herausbildung der klassen- und staatenlosen Gesellschaft sein soll, dann bedeutet dies logisch, dass es die ArbeiterInnenklasse auch nach der siegreichen sozialen Revolution noch gibt. Doch die ArbeiterInnenklasse kann es nur im Kapitalismus geben, jedoch nicht in der klassen- und staatenlosen Gesellschaft. Pannekoek konnte sich einfach nicht vom marxistischen Dogma lösen, dass die soziale Revolution die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat sei. Doch die soziale Revolution ist die Überwindung der Politik durch das sich selbst aufhebende Proletariat.
Nun, in der sozialen Wirklichkeit ist das Proletariat immer Objekt der Politik. Das Proletariat kann überhaupt nicht die politische Macht erobern, da in seiner objektiven Klassenbildung die Trennung von der Politik von Anfang an feststeht. Die politische Macht können nur BerufspolitikerInnen im Namen des Proletariats erobern. Dies war und ist dann auch die politische Praxis von Sozialdemokratie und Partei-„Kommunismus“, die dadurch aber nur Kapital und Staat reproduzieren konnten und können. Diese Praxis kritisierte auch Pannekoek: „In früherer Zeit hat man sich die kommende soziale Revolution anders vorgestellt. Zuerst sollte die Arbeiterklasse durch Wahlen, eventuell von bewaffneten Kämpfen oder politischen Streiks dabei unterstützt, im Parlament die Mehrheit und damit die politische Macht erobern. Dann sollte die aus Sprechern, Führern und Politikern bestehende neue Regierung durch Erlass von Gesetzen, durch eine neue Rechtsprechung die Kapitalistenklasse enteignen und die Produktion organisieren. Es läge also nur zur Hälfte an den Arbeitern selbst; der wichtigste Teil der Aufgabe, der Neuaufbau der Gesellschaft, die Organisation der Arbeit wäre das Werk sozialistischer Politiker und Funktionäre. In dieser Anschauung tritt die damalige Schwäche der Arbeiterklasse hervor; arm und elend, ohne wirtschaftliche Macht, sollte sie durch andere, durch fähige Führer und eine gütige Regierung in das gelobte Land des Überflusses geleitet werden. Und dort vorerst Untertan bleiben, selbstverständlich, denn Freiheit kann nicht geschenkt, sondern nur erkämpft werden. Diese bequeme Illusion ist durch das Wachstum der kapitalistischen Macht zerstreut worden. Die Arbeiter müssen nun erkennen, dass sie nur durch die höchste Entfaltung ihrer Macht darauf hoffen können, die Freiheit zu erringen; politische Gewalt, Herrschaft über die Gesellschaft muss auf wirtschaftlicher Macht, auf Herrschaft über die Arbeit fußen.“ (Anton Pannekoek, Arbeiterräte, a.a.O., S. 121.)
Pannekoek stellte also nicht der Fremdbestimmung des Proletariats durch die Politik vollkommen klar die Überwindung der Politik durch das sich selbst revolutionär aufhebende Proletariat entgegen, sondern die politische Herrschaft des Proletariats. Diese sollte aber nicht die Form eines „ArbeiterInnenstaates“ (= Staatskapitalismus) einnehmen wie im Marxismus-Leninismus, sondern die eines staatenlosen Rätesystems. Pannekoek dachte sich also die politische Herrschaft des Proletariats staatenlos, eine begriffliche Ungenauigkeit, da es nach der Zerschlagung des bürgerlichen Staates weder eine ArbeiterInnenklasse noch die Politik als staatenförmige Organisation der Klassengesellschaft, die monopolisiert von BerufspolitikerInnen ausgeübt wird, geben kann. Das Proletariat befreit sich jedoch nicht von kapitalistischer Ausbeutung, indem es politische Herrschaft ausübt, wie Pannekoek behauptete, sondern indem es die Politik überwindet und sich selbst als Klasse revolutionär aufhebt.
Dies sind die Widersprüche, in die sich Pannekoek in seinem II. Teil Der Kampf in seinem Buch Arbeiterräte verrannte. Wie bereits geschrieben, beschrieb er die klassen- und staatenlose Gesellschaft, die möglicherweise aus dem proletarischen Klassenkampf und einer sozialen Revolution hervorgehen kann, bereits weiter oben in seinem Buch, im I. Teil Das Ziel. Dort verrannte er sich in weitere Widersprüche zwischen Politik und Antipolitik. Denn in diesem Teil beschrieb Pannekoek, wie die ArbeiterInnen mit Hilfe der ArbeiterInnenräte die Produktion kollektiv leiten und planen. Also eine nachkapitalistische Gesellschaft, doch in der gibt es weder das Proletariat noch deren revolutionären Selbstorganisation. Eine nachkapitalistische Gesellschaft kann nur das Ergebnis der revolutionären Selbstaufhebung des Proletariats sein – ein Umschlag der revolutionären Klassenorganisation des Proletariats in die klassenlose Selbstorganisation freier ProduzentInnen. Diese revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats konnte Pannekoek nicht erfassen. So konstruierte er den Widerspruch einer politischen Herrschaft des Proletariats in Form von ArbeiterInnenräten in einer nachkapitalistischen Gesellschaft.
Pannekoek schrieb: „Vor rund siebzig Jahren wies Marx darauf hin, dass es zwischen der Herrschaft des Kapitalismus und der endgültigen Organisation einer freien Menschheit eine Übergangszeit geben wird, in der die Arbeiterklasse zwar die ausschließliche Macht über die Gesellschaft ausübt, die Bourgeoisie aber noch nicht verschwunden ist. Er nannte diesen Zustand die Diktatur des Proletariats. Damals hatte dieses Wort Diktatur noch nicht den verhängnisvollen Klang der modernen despotischen Systeme und konnte auch noch nicht für die Diktatur einer herrschenden Partei, wie im späteren Russland (Pannekoek meint die Sowjetunion, Anmerkung von Nelke), missbraucht werden. Es bedeutete einfach, dass die über die Gesellschaft herrschende Gewalt von den Kapitalisten auf die Arbeiterklasse übergegangen sei. In den revolutionären Bewegungen von 1918/19 haben vollkommen im Bann parlamentarischer Ideen stehende Sozialisten den Versuch gemacht, diese Auffassung dadurch zu verwirklichen, dass sie den besitzenden Klassen das Wahlrecht bei der Bildung politischer Körperschaften entzogen. Es ist klar, dass dies nur als eine Verletzung der Demokratie empfunden werden konnte, da es zum instinktmäßigen Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden im Widerspruch stand. Wir sehen nun, dass die Räteorganisation in der Praxis verwirklicht, was Marx theoretisch vorwegnahm, wobei deren praktische Gestalt aber damals noch nicht ausgedacht werden konnte. Wenn die Produktion von den Produzenten selbst geregelt wird, ist die frühere Ausbeuterklasse automatisch, ohne irgendwelche künstliche Bestimmung, von der Teilnahme an Entscheidungen ausgeschlossen. Es stellt sich jetzt heraus, dass die von Marx verkündete Diktatur des Proletariats mit der Arbeiterdemokratie der Räteorganisation identisch ist.“ (Anton Pannekoek, Arbeiterräte, a.a.O., S. 70.)
Wir übergehen hier Pannekoeks bedenkliche Ausführungen über Demokratie, Diktatur und „instinktmäßige Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden“, die stark nach verinnerlichter liberaldemokratischer Ideologie riechen, und gehen gleich zu dem Wesentlichen über. Sowohl Marx als auch Pannekoek leisteten sich den Widerspruch, dass sie die nachkapitalistische Existenz, ja sogar die politische Herrschaft der ArbeiterInnenklasse annahmen, einer Klasse, die es nur im Kapitalismus geben kann. So wie es „zwischen der Herrschaft des Kapitalismus und der endgültigen Organisation einer freien Menschheit“ auch noch eine Bourgeoisie geben sollte, die jedoch durch die Diktatur des Proletariats unterdrückt werden sollte. Aber die Bourgeoisie kann nur durch die Ausbeutung der Lohnarbeit sozialökonomisch existieren, das Proletariat wäre also weiter ausgebeutet, würde aber die politische Herrschaft ausüben. Die Diktatur des Proletariats als politische Herrschaftsform ist also reines Hirngespinnst, was niemals zur materiellen Gewalt werden kann. Während bei Marx die Diktatur des Proletariats die Form eines Staates annehmen sollte (siehe Kapitel III.3), war sie bei Pannekoek die staatenlose Räteherrschaft. Bei Pannekoek war die Bourgeoisie als „frühere Ausbeuterklasse“ durch die Räteherrschaft als Diktatur des Proletariats „von der Teilnahme an Entscheidungen“ ausgeschlossen. Weiter oben hatte er jedoch geschrieben, dass es die Bourgeoisie in der Übergangszeit vom Kapitalismus zum Kommunismus noch geben soll. Die Bourgeoisie kann aber nur als ausbeutende Klasse existieren. Die „frühere Ausbeuterklasse“ ist bereits die revolutionär aufgehobene Bourgeoisie. Und wenn die Bourgeoisie aufgehoben ist, gibt es auch kein Proletariat mehr und auch nicht dessen Diktatur. Sondern „nur“ eine klassen- und staatenlose Gesellschaft. Und in dieser haben ehemalige Bourgeois jetzt als Teil der freien ProduzentInnen ebenfalls Einfluss. Sie werden als herrschende Klasse aufgehoben, haben aber als Menschen die Chance sich in die klassen- und staatenlose Gesellschaft zu integrieren. Dieses Angebot muss mit einem kompromisslosen Kampf gegen die Konterrevolution verbunden werden. Auch diesen Kampf führt bereits eine klassen- und staatenlose Gesellschaft, aber nicht mehr das Proletariat, was sich zu diesem Zeitpunkt bereits revolutionär aufgehoben hat.
Für den bewusst antipolitischen Kommunismus ist die Diktatur des Proletariats überhaupt keine politische Herrschaftsform, sondern der militante Kampf dieser Klasse gegen KapitalistInnen, Wirtschaftsbosse, BerufspolitikerInnen, Bullen, SoldatInnen und GeheimdienstlerInnen. Die proletarische Diktatur ist Gewalt und Zwang dieser Klasse gegenüber den Klassenfeinden. Sie entwickelt sich bereits im reproduktiven Klassenkampf. In der möglichen sozialen Revolution erlebt die Diktatur des Proletariats ihren Höhepunkt. Indem sie die Warenproduktion überwindet und den Staat zerschlägt, geht sie selbst in die klassen- und staatenlose Gesellschaft über. Die revolutionäre Diktatur des Proletariats überwindet den Kapitalismus, ist aber keine nachkapitalistische Übergangsgesellschaft. Das real existierende Rätesystem in Deutschland 1918/19 übte übrigens auch keine Diktatur des Proletariats aus, sondern fügte sich der Diktatur des Kapitals, indem es sich, infiltriert von sozialdemokratischen FunktionärInnen und BerufspolitikerInnen, zugunsten einer parlamentarisch-demokratischen Republik selbst auflöste. Auch in dieser Frage ist also Rätefetischismus völlig unangebracht
Wenn Pannekoek seine imaginäre Räteherrschaft genauer beschrieb, zeigte er doch gewisse antipolitische Tendenzen. Er beschrieb nämlich die Räte als Aufhebung der Politik: „Ganz anders ist die Organisation der gemeinschaftlichen Produktion mittels der Arbeiterräte. Die gesellschaftliche Produktion ist hier nicht in eine Vielzahl gesonderter Unternehmen aufgeteilt, von denen jedes einzelne die beschränkte Lebensaufgabe einer Person oder einer Personengruppe ist; jetzt bildet sie ein zusammenhängendes Ganzes, für das die Gesamtheit der Arbeiter zu sorgen hat und das als gemeinsame Aufgabe alle ihre Gedanken beschäftigt hält. Die allgemeine Regulierung ist keine Nebensache, die einer kleinen Gruppe von Spezialisten überlassen bleibt; sie bildet vielmehr die Hauptsache, die die Aufmerksamkeit von allen miteinander erfordert. Es gibt keine Trennung zwischen Politik, als die Lebensbeschäftigung einer Gruppe von Spezialisten, und Wirtschaft, als der Lebensbeschäftigung der großen Masse der Produzenten. Für die eine und einzige Gemeinschaft der Produzenten sind nun Politik und Wirtschaft zu einer Einheit von allgemeiner Regulierung und praktischer produktiver Arbeit verschmolzen, die zur wesentlichen Aufgabe aller wird.
Dieser Charakter spiegelt sich in der ganzen Praxis wider. Die Räte sind keine Politiker, keine Regierung. Sie sind Boten, die die Meinungen, die Absichten und das Wollen der Arbeitergruppen vermitteln und überbringen. Doch nicht wie unbeteiligte Botenjungen, die Briefe oder Mitteilungen, von denen sie selbst nichts wissen, austragen. Sie nehmen an den Beratungen in den Belegschaften teil, als energische Vertreter der Ansichten, die die allgemeine Zustimmung fanden. Als Delegierte der Gruppen sind sie nun nicht nur fähig, diese in der Räteversammlung zu verteidigen, sie sind auch unabhängig genug, anderen Gründen zugänglich zu sein und ihrer Gruppe über die noch allgemeineren Mehrheitsauffassungen zu berichten. So sind sie die Organe der gesellschaftlichen Verbindung und Diskussion.“ (Anton Pannekoek, Arbeiterräte, a.a.O., S. 67/68.)
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Cajo Brendel überwand zwar geistig konsequent die politische Partei als Organisationsform des klassenkämpferischen Proletariats, allerdings war auch er nicht bewusst antipolitisch. Er reproduzierte die Auffassung von Anton Pannekoek, dass die soziale Revolution gleichbedeutend mit der politischen Machteroberung des Proletariats mittels der ArbeiterInnenräte sei. Auch Cajo Brendel war kein Kritiker der nationalkapitalistischen Politik von Marx und Engels.
Anders als für Cajo Brendel war für Willy Huhn und Paul Mattick der Parteimarxismus einer Rosa Luxemburg eine angebliche Alternative zum Marxismus-Leninismus und Trotzkismus. So zitierte Huhn zustimmend folgende Ausführungen von Rosa Luxemburg auf dem Gründungsparteitag der KPD: „Der Spartakusbund ist keine Partei, die über die Arbeitermasse oder durch die Arbeitermasse zur Herrschaft gelangen will. Der Spartakusbund ist nur der zielbewussteste Teil des Proletariats, der die ganze breite Masse der Arbeiterschaft bei jedem Schritt auf ihre geschichtlichen Aufgaben hinweist, der in jedem Einzelstadium der Revolution das sozialistische Endziel und in allen nationalen Fragen die Interessen der proletarischen Weltrevolution vertritt. (…)
Der Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse in ganz Deutschland, nie anders als kraft ihrer bewussten Zustimmung zu den Ansichten, Zielen und Kampfmethoden des Spartakusbundes. (…) Der Sieg des Spartakusbundes steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Revolution; er ist identisch mit dem Sieg der großen Millionenmasse des sozialistischen Proletariats.“ (Rosa Luxemburg, Was will der Spartakusbund?, Berlin 1918, S. 13-14 des Sonderdruckes. Zitiert nach: Willy Huhn, Trotzki und die proletarische Revolution, in: Derselbe, Trotzki – der gescheiterte Stalin, Karin Kramer Verlag, Berlin (West) 1973, S. 63.)
Wir sehen in dem Zitat vor allem ein Widerspruch bei Rosa Luxemburg selbst. Zuerst sagte sie, dass der Spartakusbund, also die gegründete KPD, nicht die Herrschaft über die ArbeiterInnenklasse anstreben würde, dann führte sie aus, dass die Partei die Regierungsgewalt, also das Management des Staates erobern wolle. Nun das Ringen um den Staatsapparat kann aber objektiv nichts anderes sein als die politische Herrschaft über das Proletariat. Alle Regierungen – einschließlich der linken – bewiesen, beweisen es und werden es beweisen. Die Partei wollte die politische Macht – und die ArbeiterInnen sollten dem zustimmen. Dies bewegte sich vollständig im Rahmen des Parteimarxismus. Auch die Aussage Luxemburgs, dass der Sieg des Spartakusbundes/der KPD – einer politischen Partei – am Ende der sozialen Revolution stehen würde und identisch wäre mit dem Sieg des Proletariats, ist typische parteimarxistische Ideologie. Doch das Ende der sozialen Revolution ist nicht die Eroberung des Staates durch eine politische Partei, sondern die klassen- und staatenlose Gesellschaft nach der antipolitischen Zerschlagung des Staates durch das sich revolutionär aufhebende Proletariat. Sicher, Rosa Luxemburg hat an anderer Stelle die politische Parteidiktatur der Bolschewiki in „Sowjet“-Russland kritisiert, aber objektiv wollte sie nicht viel anderes: die politische Herrschaft der KPD. Anstatt dies zu kritisieren, schrieb Huhn: „Wir meinen: zwischen dieser ,luxemburgistischen‘ und der von Lenin und Trotzki entwickelten bolschewistischen Auffassung über die Rolle der Partei klaffen grundverschiedene Welten auf.“ (Willy Huhn, Trotzki und die proletarische Revolution, a.a.O., S. 63.)
Anders als Huhn meinen wir dagegen: Die oben zitierten Aussagen von Rosa Luxemburg sind selbst ein Ausdruck des Parteimarxismus und deshalb keine grundlegende Alternative zum Marxismus-Leninismus und Trotzkismus. Natürlich betonte Rosa Luxemburg die Selbstorganisation des klassenkämpferischen Proletariats viel stärker als Lenin oder Trotzki, nachdem dieser Bolschewik geworden ist. Aber von einem Klassengegensatz zwischen Parteimarxismus und selbstorganisierten proletarischen Klassenkampf hatte Rosa Luxemburg keinen Schimmer, ihr geistig-praktisches Wirken war Ausdruck dieses Gegensatzes. Müssen wir hier wirklich daran erinnern, dass sie, was den organisatorischen Bruch mit der Sozialdemokratie anging, zum Jagen getragen werden musste? Oder dass ihr Parteimarxismus selbst noch in der revolutionären Nachkriegskrise auch die Reproduktion des parlamentarischen Sozialreformismus, also die Beteiligung der Partei an Wahlen beinhaltete? Aber durch den Widerstand durch die antiparlamentarische Mehrheit auf dem Gründungsparteitag der KPD erst mal nicht zur materiellen Gewalt wurde? Auch wir ehren Rosa Luxemburg als subjektiv ehrliche Revolutionärin, kritisieren sie aber zugleich scharf als parteimarxistische Ideologin.
Auch Paul Mattick idealisierte den Parteimarxismus Rosa Luxemburgs: „Mit dem Wiederaufleben der Arbeiterbewegung in der sich verschärfenden Krisensituation werden auch neue Anstrengungen gemacht werden, eine den revolutionären Klassenkampf fördernde anstatt ihn hemmende Theorie zu vermitteln. Und auf dem Boden der Theorie werden sich klassenbewusste Arbeiter organisieren, um auf die revolutionäre Entwicklung einwirken zu können. Aber, nach den Erfahrungen der Vergangenheit, nicht mehr, um die Revolution für die Massen zu machen, sondern um den Arbeitermassen in ihrer Revolution den größten Beistand zu leisten. Da sich die Arbeiter in Bezug auf das Klassenbewusstsein nicht gleichmäßig entwickeln, wird es stets eine Gruppe von Arbeitern geben, die nicht nur aus der Notwendigkeit heraus, sondern aufgrund ihres revolutionären Bewusstseins, in den revolutionären Prozess einzugreifen versucht. Aber nicht als Partei, die im Lenin‘schen Sinne die revolutionäre Bewegung zu beherrschen sucht, um sich selbst zur Staatsmacht zu verhelfen, sondern im Sinne Rosa Luxemburgs, um als Teil der Arbeiterschaft die Interessen des Gesamtproletariats wahrzunehmen: Die Organisation der Revolution und der neuen Gesellschaft durch die Eigeninitiative und die Selbstbestimmung der arbeitenden Bevölkerung.“ (Paul Mattick, Weltwirtschaftskrise und Arbeiterbewegung, Syndikat A, S. 37)
Ähm, Rosa Luxemburg wollte den ArbeiterInnen in der Revolution nicht nur Beistand leisten und als Teil der Klasse deren Gesamtinteressen wahrnehmen – übrigens war sie sozial keine Proletarierin, sondern objektiv eine kleinbürgerliche Berufsideologin der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung –, sondern die politische Machteroberung der Partei KPD, an deren Spitze sie stand. Wir sagen gegen Mattick ganz klar: RevolutionärInnen dürfen sich nicht in politischen Parteien organisieren, sondern können dies „nur“ in antipolitisch-sozialrevolutionären Gruppen tun. Die Bedeutung des Bruches mit politischen Parteien durch Otto Rühle – wie ideologisch deformiert diese auch gewesen sein mag – konnte Mattick nicht erfassen: „Keine der beiden Gruppen (KAPD/AAUD auf der einen, die AAUE auf der anderen Seite, Anmerkung von Nelke) konnte ihre Theorie beweisen, die Geschichte ging an beiden vorüber, sie argumentierten innerhalb eines Vakuums. Weder die Kommunistische Arbeiter-Partei noch die beiden Allgemeinen Arbeiter-Unionen konnten den Status ,ultra-linker‘ Sekten überwinden. Ihre internen Differenzen wirkten geradezu gekünstelt, denn es gab tatsächlich keinen Unterschied zwischen der Kommunistischen Arbeiter-Partei und der Allgemeinen Arbeiter-Unionen. Entgegen ihren Theorien arbeiteten auch die Rühle-Anhänger nicht in den Fabriken; die theoretischen Divergenzen hatten keinerlei praktische Bedeutung.“ (Paul Mattick, Otto Rühle und die deutsche Arbeiterbewegung, a.a.O., S. 30.)
Klar, nach dem endgültigen Sieg der Konterrevolution konnte die AAUE nur das Gleiche tun wie die KAPD: ihre Ideen verbreiten, die nicht mehr zur materiellen Gewalt werden konnten… Und Otto Rühle vertrat noch nicht die antipolitisch-sozialrevolutionäre Gruppe als Alternative zur politischen Partei, sondern die ökonomisch-politische Einheitsorganisation, die die AAUE sein wollte, aber nach dem Sieg der Konterrevolution nicht mehr sein konnte. Auch die KAPD war nach 1921 nicht mehr das, was sie sein wollte: eine revolutionsmachende Partei. Mal abgesehen, davon, dass es sozialrevolutionäre Parteien objektiv nicht geben kann. Aber in Zeiten, wo diese unterschiedlichen Ideen noch zur materiellen Gewalt werden konnten, entsprach diesen unterschiedlichen Ideen des radikalen KAPD-Parteimarxismus und des parteifeindlichen Kommunismus auch eine unterschiedliche Praxis: Otto Rühle brach mit Moskau 1920, während sich die KAPD von den Kremlherren 1921 in eine putschistische Politik hineinziehen ließ. Der Putschismus gehörte neben dem Parlamentarismus zu den Taktiken des Parteimarxismus, auch zu denen der antiparlamentarischen KAPD im Jahre 1921 – was der parteifeindliche Kommunismus scharf kritisierte.
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Der heutige Kommunismus ist notwendig antinational. Er bekämpft im permanenten Konkurrenzkampf der Nationen alle und unterstütz keine – selbstverständlich auch nicht jene, die noch keinen Staat hervorgebracht haben, wie zum Beispiel den palästinensischen Nationalismus. SozialrevolutionärInnen treten für die antipolitische Zerschlagung Israels ein, aber nicht für einen palästinensischen Staat.
Die beiden radikalen Marxisten Franz Pfemfert und Anton Pannekoek, die sich in den 1920er Jahren zu Theoretikern des Rätekommunismus herausbildeten, vertraten bereits vor 1914 antinationale Positionen. So trat Pannekoek dem sozialdemokratischen Nationalismus schon vor 1914 entgegen. Cajo Brendel schrieb darüber: „Als 1913 die Jahrhundertfeier der Leipziger Völkerschlacht bevorstand, als ganz Deutschland in der Erinnerung an ,die Befreiung von den napoleonischen Armeen‘ schwelgte und auch die Parteipresse der biedermännischen Sozialdemokratie ihr Scherflein beitrug, kritisierte Pannekoek in der ,Bremer Bürgerzeitung‘ den bürgerlichen Rausch mit großer Schärfe. Er hielt eine ,Leipzig-Gedenkfeier‘ für ein Stück Nationalismus und bezeichnete sie als eine ,Orgie des Byzantinismus und der Geschichtsfälschung‘. Dann führte er aus, dass jene Ereignisse, die als ,Völkerschlacht‘ hingestellt werden, mit dem proletarischen Klassenkampf nichts zu schaffen haben.“ (Cajo Brendel, Anton Pannekoek. Denker der Revolution, ca ira Verlag, Freiburg 2001, S. 169.)
In einer Anmerkung dazu führte Cajo weiter aus: „Der Aufsatz ,Nachbetrachtung zur Völkerschlachtfeier‘ erschien am 25. Oktober 1913. Er wurde auch in der ,Leipziger Volkszeitung‘ veröffentlicht. Es war keineswegs Pannekoeks erste Stellungnahme zu dieser Frage. Er erzählt, dass Franz Mehring gegen ihn polemisierte, da dieser gegenüber dem preußischen Militarismus und Absolutismus häufig frühbürgerliche Vorstellungen von ,Demokratie‘ und ,Freiheit‘ hervorgehoben hatte. Pannekoeks Auffassung hierzu unterscheidet sich deutlich von der des bekanntesten Historikers der deutschen Partei. Mit dem Pannekoekschen Satz: ,Wer Leipzig feiern will, soll auch Sedan feiern‘, wurde Mehring in seiner ganzen Denkart getroffen (vgl. ,Herrinneringen‘, S. 174).“ (Cajo Brendel, Anton Pannekoek, a.a.O., S. 218.)
Anton Pannekoek bezog nach seinem Bruch mit der Sozialdemokratie und dem Partei-„Kommunismus“ antinationale Positionen, die nicht identisch mit dem „Internationalismus“ sind, wie Cajo Brendel ausführte: „In seinem Buch über die Arbeiterräte trägt Pannekoek seinen Standpunkt nochmals vor. Er macht klar, dass die Arbeiterklasse, sobald sie revolutionär vorgeht, sich vom Nationalismus befreien wird, dass ihre Organisation, ihre gegenseitige und freiwillige Zusammenarbeit, nicht an den Landesgrenzen aufhört. Er legt dar, dass das nichtnationale Wesen der Arbeiterklasse etwas anderes bedeutet als „Internationalismus“. Dieser kann auch eine friedliche Zusammenarbeit der verschiedenen Nationen ausdrücken, ,wie in einem imaginären bürgerlichen Idealvölkerbund‘. Aber ,für die sich befreienden Arbeiter sind die Nationen ganz verschwunden. (…) Der Nationalismus verschwindet von der Erde mit der Klasse, zu der er gehört.‘ (vgl. ,Herrineringen‘, S. 214 f.)“ (Cajo Brendel, Anton Pannekoek, a.a.O., S. 169.)
Zu diesen Ausführungen von Cajo Brendel von uns drei Anmerkungen. Erstens ist es richtig, dass das Proletariat als Klassenkampf- und potenziell revolutionäres Subjekt notwendig tendenziell antinational ist, da die mögliche soziale Weltrevolution nur eine permanente Kette der Zerschlagung aller Nationalstaaten sein kann. Zweitens waren und sind Links- und Rätekommunismus als theoretische Ausdrücke des proletarischen Klassenkampfes im Unterschied zur nationalkapitalistischen Sozialdemokratie und zum Rechtsleninismus zwar tendenziell, aber eben nicht konsequent antinational. So unterblieb zum Beispiel bei beiden marxistischen Strömungen eine systematische und scharfe Kritik der reaktionären nationalkapitalistischen Tendenzen bei Marx und Engels. Drittens drückt sich inhaltliche Konsequenz auch immer in begrifflicher Genauigkeit aus, während Inkonsequenz in verschwommener Wortwahl Gestalt annimmt. So bezeichneten/bezeichnen sich die nur tendenziell, aber nicht konsequent-bewusst antinationalen linkskommunistischen Strömungen wie die IKT und die IKS selbst nicht als antinational, sondern nur als „internationalistisch“. Demgegenüber ist der nachmarxistische und nachanarchistische Kommunismus inhaltlich konsequent und begrifflich klar absolut antinational.
Von einer antinationalen Position aus kritisierte der radikale Marxist – der selbst nicht in der SPD desorganisiert war – und spätere Pionier des parteifeindlichen Kommunismus, Franz Pfemfert, die deutsche Sozialdemokratie bereits vor 1914. So schrieb Pfemfert bereits am 18. Juni 1913 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Aktion über den grundsätzlich bürgerlichen Charakter der SPD: „Das ist keine Arbeiterpartei mehr, das ist eine bürgerliche Reformpartei mit sozialistischem Vorwand. Sie hat ihre Massen musterhaft organisiert. (Auch die ,Viktoria‘-Lebensversicherung ist eine musterhafte Organisation.) Sie hält auf ,eiserne Disziplin‘. (Wie der preußische Militarismus.) Sie ist die größte politische Organisation der Welt. Aber sie ist nicht, was sie vortäuschen möchte: eine revolutionäre Partei. Wie sollte sie es auch sein! Sie ist lange schon der letzte Erwerbszweig aller verkrachten bürgerlichen Politiker. Jeder Wanderredner, der über die nötigen Schlagworte verfügt, sieht in der Sozialdemokratie eine Zuflucht, jeder intellektuelle Bankrotteur, jeder ehrgeizige Karrierehascher. Wer ihrer Kompromisswirtschaft förderlich sein kann, wird von der Partei mit offenen Armen empfangen. Und so hat die Sozialdemokratie Diplomaten, Redner, Demagogen, Strategen, sie besitzt die reichhaltigste Musterkollektion an ,Führern‘, sie kann auf die revolutionären Sozialisten, die (wie R.L.= Rosa Luxemburg) sich in ihren Reihen störend bemerkbar machen, spottend verzichten.“ (Die Aktion, 18. Juni 1913, zitiert nach: Franz Pfemfert – Zur Erinnerung an einen revolutionären Intellektuellen, in: Die Aktion, Heft 209, Edition Nautilus, Hamburg 2004, S. 31.) Die objektiv konterrevolutionäre Sozialdemokratie verzichtete ab 1914 nicht nur auf subjektiv revolutionäre Kräfte, zwischen 1918 und 1923 organisierte sie deren massenhafte Ermordung.
Schon 1913 hatte Pfemfert den bürgerlich-nationalen Charakter des sozialdemokratischen Internationalismus offengelegt: „Die Sozialdemokratie ist stolz auf ihren Internationalismus. In Wahrheit handelt es sich nicht darum, international zu sein, sondern antinational. In Wahrheit ist der ,Internationalismus‘ Humbug, Schwindel, Phrase. Und es sind nur feige Ausflüchte, wenn man zwischen Nationalismus und Chauvinismus einen Unterschied feststellen möchte. Es gibt hier keinen Unterschied; es ist keine Frage der Vernunft, es ist lediglich eine Angelegenheit des Zufalls, wann die Krankheit Nationalismus chauvinistische Fieberzustände bringt. Wer gegen Chauvinismus redet und den Nationalismus gutheißt, treibt Unfug!
Die Sozialdemokratie muss antinational sein, will sie eine geistige Partei darstellen. Sie muss, will sie die Befreiung der Menschheit ernstlich, antipatriotisch sein, denn die Macht der herrschenden Klasse wurzelt allein im Patriotismus. Wenn die reaktionären Parteien patriotisch sind, so ist das begreiflich. Wer aber für die Freiheit ist, wer gegen Krieg und Unterdrückung ist, der muss, sei er Arbeiter oder Bürger, den Patriotismus als eine Sklavenmoral ablehnen. Bleibt die Sozialdemokratie bei ihrem stimmzettelmehrenden Nationalismus, dann ist sie ewig zur Ohnmacht verdammt.“ (Die Aktion, 21. Mai 1913, zitiert nach: Franz Pfemfert – Zur Erinnerung an einen revolutionären Intellektuellen, a.a.O., S. 37.)
Der zweite Absatz des Zitats ist natürlich stark idealistisch. Was soll eine „geistige Partei“ sein? Auch schreibt Pfemfert nicht, zu was sich die Sozialdemokratie objektiv entwickelte, nämlich zu einer offen nationalkapitalistischen Kraft, sondern er forderte sie auf antinational zu sein. Doch mächtig werden konnte das sozialdemokratische BerufspolitikerInnentum nur als nationale Kraft. Aber der Kerngedanke wurde vom Pfemfert bereits 1913 völlig klar formuliert: Subjektiv revolutionäre Kräfte dürfen nicht lediglich internationalistisch, sie müssen bewusst antinational sein. Auch wenn das Subjekt der antinationalen Grundhaltung bei Pfemfert nicht materialistisch das sich möglicherweise selbst revolutionär aufhebende Proletariat, sondern idealistisch und klassenneutral „freiheitsliebende“ ArbeiterInnen und BürgerInnen sind. Das Predigen von abstrakter und klassenneutraler „Freiheit“ stellt eine anarchistische Gepflogenheit dar, die stark an liberale Angewohnheiten erinnert.
Die radikalmarxistischen Pioniere des Rätekommunismus Anton Pannekoek und Franz Pfemfert entwickelten also bereits vor 1914 antinationale Positionen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es notwendig, sowohl den kolonialen Imperialismus als auch die antikoloniale Herausbildung neuer privat- oder staatskapitalistischer Nationen konsequent von einem antinationalen Standpunkt als sozialreaktionär zu kritisieren. Der Niedergangs-Rätekommunismus war dazu nicht in der Lage. Er betrachtete die politische Machteroberung von marxistisch-leninistischen Parteibonzen in Asien, Afrika und auf Kuba als eine „bürgerliche Revolution“ und damit irgendwie „fortschrittlich“. Wir haben bereits im Kapitel II.8 darauf hingewiesen, dass der marxistische Begriff der „bürgerlichen Revolution“ ungenau hinsichtlich der politischen Machteroberung von klassischer Bourgeoisie in Westeuropa und marxistisch-leninistischer Parteiapparate in einigen Ländern Eurasiens und Afrikas sowie auf Kuba ist und deren absolut sozialreaktionären Charakter verschleiert.
So schrieb Paul Mattick 1970: „In einem kapitalistisch-unentwickelten Land ist die bürgerliche Revolution, historisch gesehen, auch vom Arbeiterstandpunkt aus fortschrittlich, da erst die entwickelte kapitalistische Gesellschaft dem Sozialismus eine Chance gibt.“ (Paul Mattick, Der Leninismus und die Arbeiterbewegung des Westens, in: Anton Pannekoek, Paul Mattick u. a., Marxistischer Anti-Leninismus, a.a.O., S. 201.)
Mattick verwechselt hier wieder die antifeudale Revolution (England und Frankreich) beziehungsweise die antifeudal-antiprivatkapitalistische Revolution (Russland), bei der die kleinbürgerlich-vorindustrieproletarische Sozialbewegung und das sozial noch sehr schwache, aber sehr klassenkämpferische russische Proletariat die vorwärtstreibenden Elemente waren, mit der bürgerlichen beziehungsweise der staatskapitalistischen Konterrevolution der klassischen Bourgeoisie und der Staatsbourgeoisie. Selbst in dem Land, wo die Bourgeoisie in Folge einer antifeudalen Revolution zum ersten Mal an die politische Macht gelangte, in England, war dies für das vorindustrielle Proletariat kein „Fortschritt“. Nein, die Herrschaft der Bourgeoisie verkörperte von Anfang an finstere Sozialreaktion, die auf der Ausbeutung des vorindustriellen Proletariats beruhte, gegen die sich der Frühkommunismus in Form der Diggers wehrte. Klar, das vorindustrielle Proletariat war sozial noch zu schwach und auch geistig zu unreif, um die Bourgeoisie zu stürzen. So wie auch das revolutionäre Proletariat in Form des Kronstädter Aufstandes im März 1921 gegen den staatskapitalistischen Bolschewismus nicht siegen konnte. Aber die Diggers und der Kronstädter Aufstand verkörperten die Tatsache, dass die bürgerliche Machtübernahme von Bourgeois und marxistischen Parteibonzen auch „in einem kapitalistisch-unentwickelten Land“ „vom ArbeiterInnenstandpunkt“ aus gesehen absolut sozialreaktionär und konterrevolutionär war! Ja, es stimmt: die kapitalistische Industrialisierung schafft auch die Möglichkeit der revolutionären Selbstaufhebung des Proletariats – die vorher absolut unmöglich war. Aber die mögliche revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats ist die Folge der kapitalistischen Industrialisierung als sozialreaktionärem Prozess, jedoch nicht mit ihr identisch. Ein sozialreaktionärer Prozess wird nicht dadurch „fortschrittlich“, weil er auch mit der Möglichkeit schwanger geht, ihn revolutionär aufzuheben!
Mit den marxistischen Dogmen im Kopf von der angeblichen ursprünglichen „Fortschrittlichkeit“ von „bürgerlicher Revolution“ und Bourgeoise/marxistisch-leninistischen Parteibonzen in kapitalistisch-unentwickelten Ländern konnte Mattick auch die sozialreaktionäre Herausbildung neuer staatskapitalistischer Nationen in Asien, Afrika und auf Kuba in Folge der nationalen „Befreiung“ gegen den westlichen Kolonialismus und Imperialismus nicht konsequent-revolutionär kritisieren. Für ihn war der sozialreaktionäre Prozess der Herausbildung neuer Nationalstaaten „bürgerlich-revolutionär“: „Die „national-revolutionären Bewegungen der Dritten Welt sind nicht Zeichen einer herannahenden weltweiten sozialistischen Revolution, sondern aus der Not geborene Versuche der eigenen Kapitalisation, deren erste Voraussetzung der Kampf gegen den alten Imperialismus ist. In dem Maße, in dem es den national-revolutionären Ländern gelingt, sich von fremder Ausbeutung zu befreien, vertiefen sich die dem Kapitalismus eigenen Schwierigkeiten und tragen zu seiner Auflösung bei. Als Ausdruck des zerfallenden Kapitalismus sind diese Bewegungen vom proletarischen Klassenstandpunkt zu begrüßen; aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sich die Ziele der proletarischen Revolution nicht mit denen der nationalen Selbständigkeitsbestrebungen vereinbaren lassen. Zu einer Zeit, in der sich Länder, die sich auf dem Leninismus berufen, als Feinde gegenüberstehen, ja sich gegenseitig zu zerstören drohen und in der national-staatskapitalistische Interessen, wie alle nationalen Interessen, als imperialistische Interessen auftreten, ist es nicht mehr möglich, von einer Identität der national-revolutionären und der proletarischen Bewegung zu sprechen.
Es wäre natürlich schön, wenn sich die anti-kapitalistischen und anti-imperialistischen Bewegungen in einer großen gemeinsamen Front gegen den imperialistischen Kapitalismus zusammenfassen und unter eine einheitliche revolutionäre Führung bringen ließen. Aber das ist nur in der Vorstellung, nur als Idee möglich, da die Verschiedenheiten der materiellen und sozialen Zustände in den einzelnen Ländern eine solche revolutionäre Einheitsfront ausschließen. Die national-revolutionären Bewegungen können nicht zum Sozialismus führen, und die einzige Revolution, die die Arbeiter des Westens machen können, ist die sozialistische Revolution.“ (Paul Mattick, Der Leninismus und die Arbeiterbewegung des Westens, a.a.O., S. 202/203.)
Mattick nannte also die Nationalismen in der „Dritten Welt“ (=Trikont), die zur Herausbildung neuer kapitalistischer Staaten führten und absolut sozialreaktionär waren, „revolutionär“. Er blendete hier völlig aus, dass die reaktionären Linksnationalismen in „ihren“ Ländern – zum Beispiel in China, Vietnam und auf Kuba – brutal-terroristisch gegen das klassenkämpferische Proletariat und den kleinbürgerlichen Radikalismus (Trotzkismus und Anarchismus) vorgingen. Der marxistisch-leninistische Linksnationalismus im Trikont war also von Anfang an ein struktureller Klassenfeind des Weltproletariats und nicht „vom proletarischen Klassenstandpunkt aus zu begrüßen“ wie Mattick behauptete. Und auch seine Behauptung, dass die staatskapitalistischen Linksnationalismen zur Auflösung des Kapitalismus beigetragen hätten, war sachlich falsch. Sie waren Durchsetzungsformen des Weltkapitalismus. Zwar erkannte Mattick den Gegensatz von proletarischer Revolution und den „national-revolutionären Bewegungen der Dritten Welt“, aber den absolut sozialreaktionären Charakter der letzteren sah er nicht. Im Gegenteil, er behauptete, dass es „schön“ wäre, wenn sich der linksnationale „Antiimperialismus“ im Trikont mit dem Antikapitalismus vereinen ließe. Oh je! Die absolute Trennung von beiden ist noch immer notwendig!
Weil er den sozialen Prozess durch die marxistische Ideologie-Brille nur verzerrt sah, erkannte Mattick nicht den absolut sozialreaktionären Charakter der leninistischen Linksnationalismen im Trikont. Im Trikont stand damals nach dem verknöcherten marxistischen Schema die kapitalistische Industrialisierung auf der historischen Tagesordnung, aber noch nicht die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats wie im Westen. Klar, die objektiven Bedingungen waren im Trikont damals noch nicht reif für die soziale Revolution – wie heute auf der ganzen Welt noch nicht die subjektiven Bedingungen dazu reif sind. Aber nur, weil die objektiven und subjektiven Bedingungen für die mögliche soziale Revolution noch nicht reif waren und sind, war und ist eine absolut sozialreaktionäre Erscheinung wie der leninistische Linksnationalismus nicht „fortschrittlich“! Matticks Inkonsequenz gegenüber dem Linksnationalismus im Trikont war ein Ausdruck der subjektiven Unreife der damaligen kommunistischen Bewegung.
Cajo Brendel legte die gleiche Inkonsequenz gegenüber dem leninistischen Linksnationalismus an den Tag. Auch für Brendel war der Leninismus „bürgerlich-revolutionär“, und damit zwar nicht proletarisch-revolutionär, aber dennoch irgendwie „fortschrittlich“. So schrieb er in der Einführung zur englischen Ausgabe der Thesen über die chinesische Revolution: „Die Kämpfe der Kolonialvölker haben die revolutionäre Bewegung etwas gelehrt. Die Tatsache, dass schlecht bewaffnete bäuerliche Bevölkerungen den enormen Streitkräften des modernen Imperialismus haben standhalten können, hat den Mythos von der Unbesiegbarkeit der militärischen, technologischen und wissenschaftlichen Macht des Abendlandes erschüttert. Ihr Kampf hat zudem Millionen von Menschen die Brutalität und den Rassismus des Kapitalismus deutlich gemacht und hat viele Menschen – vor allem Junge und Studenten – dazu gebracht, gegen ihre eigenen Regime zu kämpfen.“ (Zitiert nach: Philippe Bourrinet, Holländischer Rätekommunismus: Von den „Groepen van Internationale Coomunisten“ zum „Spartacusbond“, in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit Nr. 13, Fernwald (Annerod) 1994, S. 45/46.)
Was hier auffällt, ist das völlige Fehlen einer Klassenanalyse. Es ist hier bei Brendel klassenneutral von „Kolonialvölkern“ die Rede. Diese waren aber klassengespalten in eine schwache Bourgeoisie, GroßgrundbesitzerInnen, in BäuerInnen, ArbeiterInnen – und kleinbürgerliche BerufspolitikerInnen. Letztere führten leitend sozialreaktionäre Guerillakriege mit bäuerlicher Basis, die bei einem Sieg zur Gründung von Nationalstaaten führten. Natürlich war der kleinbürgerliche Radikalismus des Westens von dem Agieren seines Klassen- und Gesinnungsbruders im Trikont begeistert. Aber der kleinbürgerliche Radikalismus ist nun mal letztendlich nicht sozialrevolutionär. Es wäre die Aufgabe von Cajo Brendel gewesen, den kleinbürgerlichen Radikalen, die von den imperialistischen Kriegen des Westens moralisch abgestoßen waren, die Wahrheit über den absolut sozialreaktionären Charakter der leninistischen Linksnationalismen im Trikont zu sagen. Doch das konnte er nicht, wegen seinen marxistischen Dogmen von der „bürgerlichen Revolution“. So fehlte Cajo Brendel in dieser wichtigen Frage die notwendige Konsequenz. Im Vietnamkrieg war zum Beispiel sowohl ein revolutionärer Kampf gegen das staatskapitalistische Regime in Hanoi als auch den US-Imperialismus notwendig.
Trotz seiner Inkonsequenzen und Fehler verkörperte der Rätekommunismus unsterbliche Verdienste und Errungenschaften. Er war die radikalmarxistische Strömung, die als erstes mit dem Lenin/Trotzki-Regime brach und dieses als staatskapitalistisch analysierte. Der Rätekommunismus war der geistige Ausdruck der praktischen klassenkämpferischen Selbstorganisation des Proletariats gegen Kapital, Staat und bürgerlich-bürokratische Gewerkschafts- und Parteiapparate der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung. Er war nicht nur antistalinistisch wie der italienische Linkskommunismus, sondern antileninistisch. Die konsequentesten Ausformungen des Rätekommunismus waren nicht nur antiparlamentarisch, sondern lehnten auch die politische Partei als Organisationsform für das klassenkämpferische Proletariat und die SozialrevolutionärInnen klar ab.
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