4. Der Anarchismus zwischen Individualismus, Liberalismus und Kommunismus
Wir heutigen SozialrevolutionärInnen stützen uns bei der Kritik an Marx und Engels als PolitikerInnen der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung auch kritisch auf Bakunin. Aber wenn wir Bakunin in der Auseinandersetzung mit Marx zustimmend zitieren, ist das nicht als Parteinahme für den Anarchismus misszuverstehen. In Deutschland, so schrieb Bakunin in Staatlichkeit und Anarchie, „unterwerfen sich die deutschen Arbeiter blind ihren Führern, während die Führer, die Organisateure der sozialdemokratischen deutschen Partei, sie weder zur Freiheit noch zur internationalen Brüderschaft führen, sondern unter das Joch des pangermanistischen Staates.“ (Zitiert nach: Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Verlag Tribüne Berlin, 1990, S. 47/48.)
Rudolf Bahro war früher mal oppositioneller Marxist gegen die SED-Parteidiktatur. Später vertrat dieser Mann sehr krude ökoidealistische Positionen, die auch ökofaschistische Bestandteile enthielten. Doch sein halbmaterialistisches Buch Die Alternative ist ein interessantes Werk. So schrieb Bahro zu Bakunins Kritik an der Sozialdemokratie: „Was Engels 1895 nicht ahnte, das stellte sich Bakunin 1873 fast leibhaftig vor, den ,Aufbruch‘ der deutschen Sozialdemokratie im Jahre 1914.“ (Rudolf Bahro, Die Alternative, a.a.O.,S. 48.)
Doch Bakunin sagte nicht nur die zukünftige Rolle der SPD als Instrument des deutschen Imperialismus voraus. Bahro schrieb: „Und so können wir heute mit ungläubigem Erstaunen in Marxens eigenem Exzerpt nachlesen, was Bakunin auf dem Grunde der marxistischen Theorie und Praxis gesehen haben wollte (MEW 18/603, 625, 628, 635 ff.). Bakunin hatte dort gesehen ,einen Despotismus der regierenden Minderheit, um so viel gefährlicher, als sie erscheint als Ausdruck des so genannten Volkswillens‘. ,Aber diese Minderheit, sagen die Marxisten‘, (Marx fragt dazwischen: Wo?), ,wird aus Arbeitern bestehen. Ja, mit Erlaubnis, aus gewesenen Arbeitern, aber die, sobald sie nur Repräsentanten oder Regierer des Volkes geworden sind, aufhören Arbeiter zu sein und sehn werden auf die ganze allgemeine Arbeiterwelt von der Höhe der Staatlichkeit; sie werden nicht mehr das Volk vertreten, sondern sich und ihre Ansprüche auf die Volksregierung‘. Diese ,intelligente und deswegen privilegierte Minderheit‘ werde regieren, ,wie wenn sie die wirklichen Interessen des Volkes besser begriffe als das Volk selbst‘. Man werde den Begriff ,wissenschaftlicher Sozialismus‘ zur Begründung solcher Ansprüche missbrauchen. Der so genannte Volksstaat Wilhelm Liebknechts, den er Marx zuschrieb, werde nichts anderes sein, ,als die sehr despotische Lenkung der Volksmassen durch (eine) neue und sehr wenig zahlreiche Aristokratie wirklicher oder angeblicher Gelehrten. Das Volk ist nicht wissenschaftlich, das bedeutet, es wird ganz und gar befreit werden von der Sorge um die Regierung, es wird ganz und gar eingeschlossen werden im regierten Stall‘. ,Da die Wissenschaft nicht allen zugänglich ist, werden die Wenigen alles leiten‘, so ,dass am andern Tag der Revolution (eine) neue gesellschaftliche Organisation gegründet werden muss nicht durch freie Vereinigung volkstümlicher Organisationen, Gemeinden, Amtsbezirke, Gebiete von unten nach oben…, sondern durch die diktatorische Gewalt jener gelehrten Minorität‘. (…)
Marx brach angesichts der Bakuninschen ,Regierung der Gelehrten‘ in den Ruf aus: ,quelle reverie!‘ – ,welche Phantasterei!‘ Er tat das, obwohl Bakunin gerade in diesem Punkt noch etwas konkreter phantasierte: Sie, die Marxisten, gründen, nachdem das Volk alle Macht in ihre Hände gegeben hat, ,eine einzige Staatsbank, konzentrierend in ihren Händen alle kommerziell-industrielle, ländliche und selbst wissenschaftliche Produktion, und sie teilen die Masse des Volkes in zwei Armeen: industrielle und agrikole unter dem unmittelbaren Kommando von Staatsingenieuren, die einen neuen privilegierten wissenschaftlich-politischen Stand bilden‘. Dieser letzte Ausdruck ist von frappierender Genauigkeit. Man musste wahrscheinlich Anarchist und Russe sein, um hinter der Autorität Marxens und seiner Lehre im Jahre 1873 den Schatten Stalins zu gewahren. Marx sah den Schatten nicht, konnte und wollte ihn nicht sehen.“ (Rudolf Bahro, Die Alternative, a.a.O.,S. 46-48.) Bakunin gebührt das Verdienst, den sozialreaktionären Charakter der marxistischen Parteipolitik klar benannt und hellsichtig vorausgesehen zu haben.
Allerdings waren Bakunins Vorstellungen von Geheimgesellschaften, in denen sich die SozialrevolutionärInnen organisieren sollten, ebenfalls sehr autoritär geprägt. Nach diesen Vorstellungen war zum Beispiel die militante Organisation des spanischen Anarchosyndikalismus FAI geformt. Diese sah sich gegenüber der anarchosyndikalistischen CNT als Eliteorganisation, welche über die ideologische Reinheit der Bewegung wachte. Der Anarchosyndikalismus hatte starke antipolitische und antiparlamentarische Tendenzen, also das woran es dem Marxismus mangelte. Und er verkörperte in seinen besten Zeiten – also vor dem Ersten Weltkrieg – auch wesentlich radikalere Formen des reproduktiven Klassenkampfes als die christlichen oder sozialdemokratischen Gewerkschaften. Aber der Anarchosyndikalismus verkörperte eben doch eine Ideologie und Praxis der globalen Gewerkschaftsbewegung. Gewerkschaften sind jedoch generell keine revolutionären Organisationen, sie sind der bürokratisch entfremdete Ausdruck des reproduktiven Klassenkampfes. Auch der Anarchosyndikalismus wurde zu einer Strömung des globalen Gewerkschaftsreformismus (siehe 1. Teil, Kapitel II.5).
Diese sozialreaktionäre Entwicklung des Anarchosyndikalismus wurde übrigens vom deutschen Anarchisten Gustav Landauer noch vor dem Ersten Weltkrieg vorausgesagt: „Das Buhlen um die Massen hat die französischen revolutionären Syndikalisten im Laufe der Jahre genauso heruntergebracht wie die Parlamentssozialisten.“ (Zitiert nach Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923, a.a.O., S. 18.) In der Tat wurde der französische Syndikalismus, verkörpert in der CGT, nach 1914 offen sozialreformistisch.
Allerdings war Landauer und der von ihm im Jahre 1909 gegründete Sozialistische Bund nicht in der Lage eine sozialrevolutionäre Alternative zu Parteimarxismus und Anarchosyndikalismus zu formulieren, wie auch in der Darstellung von Hans Manfred Bock deutlich wird: „Der Sozialismus soll nicht – wie Landauer es der ,verflachten‘ Sozialdemokratie vorwirft – in fatalistischer Weise erwartet, sondern er muss sofort begonnen werden. ,Nicht warten! Heißt unsere Losung. Keine Trennung mehr zwischen Zuständen der Gegenwart, Übergangsgärung und wunderbarer Zukunft.‘ (Sozialist, 1. Jg. [1909], Nr. 2.) Da die Verwirklichung des sozialistischen Ziels einer neuen Lebensform im großen Maßstabe des Proletariats als Klasse hier und jetzt nicht möglich zu sein scheint, gilt die Parole: ,Durch Absonderung zur Gemeinschaft!‘ (Sozialist, 1 Jg. [1909], Nr. 10.) In der Vereinigung weniger Gleichgesinnter ist die neue und bessere Form der Verbindung zwischen den Menschen realisierbar. Das kann die Form von Siedlungszellen annehmen (Artikel 9 des Sozialistischen Bundes); in ihnen geben die Pioniere des Sozialismus ,ein Vorbild der Gerechtigkeit und der freudigen Arbeit‘ (Artikel 11 des Sozialistischen Bundes). Die Siedlungsunternehmen sind für Landauer lediglich exemplarische Verwirklichungen des Sozialismus, ,nicht Mittel zur Erreichung des Zieles‘. In ihnen kann man zwar ,aus dem Kapitalismus austreten‘, nicht aber ihn abschaffen; dass ist erst durch die allmähliche Bekehrung der Menschen zum Sozialismus möglich. Sozialismus ist für Landauer immer im Werden begriffen; ,aller Sozialismus ist stets nur ein relativer Sozialismus und jede Generation hat ihre eigene Aufgabe im unendlichen Prozess der Verwirklichung einer freien Ordnung sozialer Gerechtigkeit‘. (Helmut Rüdiger, Ein freiheitlicher Sozialist, in: Gustav Landauer. Worte der Würdigung, Darmstadt o.J. (1950), S. 17.) In diesem Sinne ist der Kernsatz von Landauers politischer Theorie zu verstehen, dass nämlich Sozialismus ,zu jeder Zeit und bei jedem Stand der Technik möglich (sei), wenn eine genügende Anzahl Menschen ihn wollen, die vom Geiste der Gerechtigkeit erfüllt sind‘. (Zitiert nach Helmut Rüdiger, Ein freiheitlicher Sozialist, a.a.O., S. 16.) Diese extrem voluntaristische, sämtliche objektiven Bedingungen gesellschaftlicher Transformation eliminierende Definition, die (…) geschichtlich als Reaktion auf die ,kautskyanische‘ Ausformung des Marxismus zu verstehen ist, wurde zum unermüdlich wiederholten Grundsatz der FAUD-Propaganda (Anmerkung von Nelke: die FAUD war die anarchosyndikalistische Gewerkschaft in der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg).“ (Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923, a.a.O., S. 18/19.)
Wir sehen hier deutlich die theoretischen Schwachstellen von Landauers anarchistischer Ideologie-Produktion. Zunächst ist hier sein extremer Subjektivismus, der von allen objektiven Voraussetzungen der sozialen Befreiung abstrahiert. Dann war da die Ideologisierung der kleinbürgerlichen Siedlungsunternehmen. Durch Absonderung entstehen nur Nischen für alternative KleinbürgerInnen innerhalb des Kapitalismus. Aber mit richtigem Instinkt hatte Landauer die Schwachstelle des sozialdemokratischen Parteimarxismus herausgefunden: das fatalistische Warten auf den „Sozialismus“, so lange nämlich bis die Produktivkräfte reif für ihn waren. Und so lange betrieb die SPD kleinbürgerlichen Sozialreformismus – bis die Revolution kam und sich die Sozialdemokratie als konterrevolutionär erwies. Das ist die Erfahrung mit der Sozialdemokratie und dem Anarchosyndikalismus, die uns verallgemeinern lässt: Die strukturellen ReformistInnen von heute werden die KonterrevolutionärInnen von morgen sein!
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Der promarktwirtschaftliche Anarchokapitalismus und Individualanarchismus bringt den Individualismus der bürgerlichen Marktsubjekte ideologisch zum Ausdruck. Auch ProletarierInnen sind als VermieterInnen ihrer Arbeitskraft auf den Arbeitsmärkten und als KundInnen der Konsumgütermärkte kleinbürgerliche Marktsubjekte und Konkurrenzindividuen. Das klassenkämpferische Proletariat überwindet ansatzweise als kollektive Solidargemeinschaft den Konkurrenzindividualismus. Ganz überwunden kann er nur möglicherweise durch die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats.
Demgegenüber schwankte der kommunistische Anarchismus des Intellektuellen Erich Mühsam hilflos zwischen kleinbürgerlichen Individualismus und dem kollektiven Klassenkampf des Proletariats. Erich Mühsam distanzierte sich vom individualistischen Anarchismus, der jede gesellschaftliche Organisation ablehnt. So schrieb Mühsam: „Entschiedene Abgrenzung aber ist geboten gegenüber den nur individualistischen Anarchisten, die in der egoistischen Steigerung und Durchsetzung der Persönlichkeit allein das Mittel zur Verneinung des Staates und der Autorität erblicken und selbst den Sozialismus wie jede allgemeine Gesellschaftsorganisation schon als Unterdrückung des auf sich selbst ruhenden Ich zurückweisen. Sie schließen die Augen vor der naturgegebenen Tatsache, dass der Mensch ein gesellschaftlich lebendes Wesen ist und die Menschheit eine Gattung, in der jedes Individuum auf die Gesamtheit, die Gesamtheit auf jedes Individuum angewiesen ist. Wir bestreiten die Möglichkeit und auch die Wünschbarkeit des vom Ganzen losgelösten Individuums, dessen vermeintliche Freiheit nichts anderes sein könnte als Vereinsamung, mit der Folge des Untergangs im sozial luftleeren Raum. Wir behaupten: niemand kann frei sein, solange es nicht alle sind. Die Freiheit aller aber und damit die Freiheit eines jeden setzt voraus die Gemeinschaft im Sozialismus.“ (Erich Mühsam, Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus?, Verlag Klaus Suhl, Berlin, S. 10.)
So weit so gut. Aber auch der kommunistische Anarchismus Erich Mühsams ist nicht frei von kleinbürgerlichen Individualismus. So verherrlichte Mühsam den bürgerlichen Individualismus der am kleinen Privateigentum klebenden BäuerInnen in einer solchen Art und Weise, die auf sozialrevolutionäre ArbeiterInnen nur höchst befremdlich wirken kann. Mühsam brachte den kleinbürgerlichen Anteil seiner Theorie so auf den Punkt: „Der Bauer, soweit er nicht schon als Ausgebeuteter, dem Großgrundbesitz und der Staatskasse Verschuldeter oder auch selbst zum kapitalistischen Ausbeuter Erniedrigter dem bäuerlichen Naturgefühl entfremdet ist, hat Heimatliebe, weil er wirklich Heimat hat. Ein bestimmtes Stück Land umfängt ihn, ernährt ihn, ist ihm in Sorge und Freude vertraut; seine Arbeit verschmilzt mit seinem ganzen persönlichen Leben, seine Scholle ist sein Nest, die Natur, ganz gebunden an die Landschaft, ist sein Besitzgut, und von ihr hängt das Gedeihen oder das Misslingen seines Daseins ab. Der Bauer fühlt sich nicht als Eigentümer des Bodens, sondern als Besitzer; er sitzt darauf mit denen, die viel weniger seine machtunterworfene Familie als seine in gegenseitiger Verpflichtung verbundenen Helfer sind. Wohl hat das Priestertum auch in der Bauernschaft den Geist der Autorität hochzüchten können, so dass bei der Beharrlichkeit des bäuerlichen Denkens die Grundsätze des ehelichen Gebundenheit und der Vaterhoheit, zumal in einer geschickt gefädelten Verquickung mit den Regelungen des Familien- und Erbrechts die Welterneuerung auch auf dem Lande noch genügend Vorurteile der Macht zu überwinden haben wird. Dennoch hat hier der kommunistische Anarchismus nicht das unzugänglichste, sondern das dankbarste Feld seiner Zukunft zu erkennen.“ (Ebenda, S. 62.)
Ab einer bestimmten Stufe wird der Idealismus lächerlich. Mühsam hat in dieser Frage die Grenze weit überschritten. Was für eine grobe Idealisierung der „Idiotie des Landlebens“ (Karl Marx), die Jahrhundertelang aus Analphabetismus, religiöser Beschränktheit und schwerer körperlicher Arbeit bestand! Was für eine grobe Idealisierung der patriarchalen bäuerlichen Familie! Welche Blindheit gegenüber dem kleinbäuerlichen Privateigentum, das Mühsam so pathetisch verherrlicht! Kleines Privateigentum strebt im Allgemeinen dahin ein mittleres/großes zu werden. Und mittleres/großes Privateigentum ist undenkbar ohne Lohnarbeit. Eine Gesellschaft, die auf der Ausbeutung von Lohnarbeit beruht, kann nicht ohne Staat auskommen. Indem Mühsam sich geistig nicht über die kleinbürgerliche Warenproduktion erhebt, kann er sich auch geistig nicht vom Staat befreien.
Es ist kein Zufall, dass der Anarchist Mühsam die KleinbäuerInnen verherrlicht. Historisch gesehen ist der Anarchismus der radikalere Bruder des Liberalismus. Er ist die Ideologie der militanten KleinbürgerInnen, die ihr Privateigentum gegen die bedrohliche Konkurrenz, gegen das Großkapital verteidigen. Selbst der Anarchismus Erich Mühsams, der sich auch positiv auf den kollektiven proletarischen Klassenkampf bezog, konnte sich nicht ganz von diesem kleinbürgerlichen Ursprung abnabeln. Für uns ist das kleinbäuerliche Eigentum nichts, was sich lohnt zu verteidigen. Ganz im Gegenteil, für uns sind KleinbäuerInnen vor allen Dingen eine konservative soziale Schicht. Für Mühsam sah die Sache anders aus: „Jeder Bauer ist, ohne es zu wissen, Anarchist…“ (Ebenda, S. 63.) Hier wird kleinbürgerlicher Individualismus zum Grundbestandteil des Anarchismus erklärt und damit unsere materialistische Kritik bestätigt.
Während der Russischen Revolution vereinigte sich der Anarchismus in der Ukraine mit der Agrarbewegung der KleinbäuerInnen und LandproletarierInnen in Form der Machno-Bewegung (1918-1921). Diese Bewegung bestand vor allem aus einer Guerilla-Armee mit bäuerlich-landproletarischer Basis. Ihre führende Figur war Nestor Machno, ein anarchistischer Multifunktionär, um den auch ein Personenkult betrieben wurde. Die Machno-Bewegung kämpfte gegen den österreichisch-deutschen Imperialismus und gegen die einheimische monarchistische, demokratische und bolschewistisch-staatskapitalistische Reaktion. Mit der letzteren bildete sie teilweise Zweckbündnisse gegen die feudal-privatkapitalistische Konterrevolution – aber schließlich zerschlug das staatskapitalistische Lenin/Trotzki-Regime die Machno-Bewegung ultrabrutal und repressiv. Auch wenn sich heutige SozialrevolutionärInnen positiv auf den Kampf der Machno-Bewegung gegen alle seine Feinde beziehen können, so ist doch auch Kritik an ihren avantgardistischen und kleinbürgerlichen Tendenzen angebracht. Machno war ein anarchistischer Multifunktionär und unangefochtener Führer der ganzen Bewegung. Innerhalb vieler Variationen der anarchistischen Geschichtsbetrachtung wird diese bedenkliche Tendenz der herausragenden Bedeutung eines einzelnen Individuums kaum kritisch beleuchtet. So können wir die Machno-Bewegung kaum als eine sozialrevolutionäre Bewegung betrachten, die in ihrer eigenen Organisationsform die Politik aufgehoben hätte. Personenkult reproduziert politische Herrschaft und dass es einen Personenkult um Machno in dieser anarchistischen Bewegung gegeben hat, ist wohl kaum zu leugnen. Auch ist eine bäuerliche Guerilla-Armee – das trifft auch auf die marxistisch-leninistischen zu – mit ihrer militärischen Disziplin und getrennt vom industrieproletarischen Klassenkampf objektiv ein quasistaatlicher Apparat.
Als kleinbäuerlich-landproletarische Bewegung konnte die Machno-Bewegung aus sich heraus auch nicht aktiv gegen die Warenproduktion kämpfen, wie überhaupt die objektiven und subjektiven Bedingungen für eine revolutionäre Aufhebung der Warenproduktion in der damaligen Ukraine noch nicht gegeben waren. Die Bevölkerungsmehrheit, die ukrainischen BäuerInnen waren kleinbürgerliche PrivatproduzentInnen, die für sich selbst und für den Markt landwirtschaftliche Produkte herstellten. Das bäuerliche Kleineigentum bedeutete soziale Differenzierung. Auf der einen Seite KleinbäuerInnen, deren Land zu klein war, als dass es sie ernähren konnte. Das heißt, dass sie nebenher Lohnarbeit bei reicheren BäuerInnen leisten mussten, um zu überleben. Selbst wenn das Geld vorübergehend abgeschafft worden wäre, mensch also zum Naturaltausch zurückgegangen wäre, hätte die soziale Basis von Warenproduktion und Lohnarbeit, das bäuerliche Privateigentum noch bestanden. Und keine Kraft hätte damals die BäuerInnen massenhaft dazu bewegen können, freiwillig auf das Privateigentum an Boden zu verzichten. Und dieses kleinbäuerliche Eigentum hätte Ware, Geld, Kapital und Lohnarbeit reproduziert.
Die Machno-Bewegung war Teil der urwüchsigen Agrarbewegung innerhalb der Russischen Revolution. GutsbesitzerInnen wurden verjagt oder getötet, ihr Land aufgeteilt. Diese Bewegung half also dabei ganz viel bäuerliches Kleineigentum zu schaffen. Bäuerliches Kleineigentum kann aber keine Basis für eine klassen- und staatenlose Gesellschaft sein, da die kleinbürgerliche Produktionsweise schon embryonal die Lohnarbeit und damit auf der einen Seite Kapital und auf der anderen Proletariat erzeugt. Selbst wenn die Machno-Bewegung auch gegen den Bolschewismus militärisch gesiegt hätte, die soziale Differenzierung ihrer sozialen Basis hätte sie wahrscheinlich von innen zersetzt und zerstört. Auch wenn die ukrainischen BäuerInnen zu dieser Zeit vorwiegend für den unmittelbaren Bedarf produzierten und nur das landwirtschaftliche Mehrprodukt in den Austausch geriet, war doch das kleinbäuerliche Privateigentum die Basis für eine kleinbürgerliche Warenproduktion und damit auch die Grundlage für Kapital und Lohnarbeit in der Landwirtschaft.
Auch die Agrarkommunen, die am Rande der Machno-Bewegung von den ärmsten Schichten gegründet und später vom Bolschewismus zerschlagen wurden, hätten an dieser Entwicklung mit Sicherheit nichts ändern können, da sie nur Inseln im privatbäuerlichen Meer waren und Agrargenossenschaften unter solchen Bedingungen ökonomisch nichts anderes darstellen können als kleinbürgerlich-kollektive Formen der Warenproduktion. Für deren Überwindung waren in der damaligen Ukraine weder die objektiven noch die subjektiven Bedingungen herangereift.
Die Zerschlagung der Machno-Bewegung durch den „sowjet“-russischen Staatskapitalismus ist ein eindeutiger Beleg dafür. So lange das Proletariat noch nicht die objektive und subjektive Reife zu seiner sozialrevolutionären Selbstaufhebung besitzt, bestimmt der unerbittliche bürgerliche Konkurrenzkampf die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung. Der Große frisst ohne Erbarmen den Kleinen. Teil dieses gnadenlosen Konkurrenzkampfes ist die Unterwerfung des bäuerlichen Dorfes unter die kapitalistische Stadt. Die russische Bourgeoisie erwies sich in der russischen Revolution als zu schwach, um die Agrarrevolte zu unterdrücken und das Dorf der kapitalistischen Zivilisationsbarbarei zu unterwerfen. Deshalb wurde die Bourgeoisie von den Bolschewiki, welche sich auch sozialdemagogisch auf die russische BäuerInnenbewegung stützte, hinweggefegt. Doch die Bolschewiki waren trotz ihrer „kommunistischen“ Ideologie nur die staatskapitalistische Lösung der Krise des russischen Staates. So unterwarf sich der sowjetische Staatskapitalismus das bäuerliche Dorf. In der Ukraine auf imperialistische Weise durch den Einmarsch der Roten Armee und die brutale Zerschlagung der Machno-Bewegung.
Sowohl die progressiven als auch die kleinbürgerlichen Tendenzen der Machno-Bewegung kommen in dem Buch ihres aktiven Mitkämpfers und späteren Historikers, Peter A. Arschinoff, zum Ausdruck. Wobei die kleinbürgerlichen Tendenzen der Bewegung in Geschichte der Machno-Bewegung nur durch kritisches Lesen zum Ausdruck kommen. Obwohl Arschinoff selbst von industrieproletarischer Herkunft und ein militanter Klassenkämpfer war, verschmolz er so stark mit der kleinbäuerlich-landproletarischen Machno-Bewegung, dass er deren kleinbürgerliche Tendenzen kaum noch wahrnahm. Die avantgardistischen Tendenzen reproduzierte Arschinoff geradezu unkritisch. An vielen Stellen seines Buches über die Machnobewegung formuliert Arschinoff sehr avantgardistisch, so dass nicht die KleinbäuerInnen und LandprletarierInnen als handelnde Subjekte erscheinen, sondern als Objekte des Organisationstalentes von Machno. Er betrieb in seinem Buch auch einen manchmal nur schwer ertragbaren Personenkult um Machno.
Nach der sozialreaktionären Zerschlagung der Machno-Bewegung durch den Bolschewismus musste auch Arschinoff in das westeuropäische Exil gehen. Dort verschärften sich seine avantgardistischen Tendenzen, die von seinen anarchistischen Gegnern als „Anarchobolschewismus“ bezeichnet wurden. Nach und nach zersetzte sich seine sozialrevolutionäre Einstellung. Er wurde von Depressionen und Heimweh geplagt. In den 1930er Jahren schrieb er antianarchistische Schriften und ging in die staatskapitalistische Sowjetunion zurück. Dort wurde er während der Säuberungen 1937 hingerichtet.
Bei aller Kritik an den kleinbürgerlichen Tendenzen der Machno-Bewegung und seines Geschichtsschreibers, die antipolitischen und antidemokratischen Tendenzen des Anarchismus brachte Arschinoff sehr gut auf den Punkt: „Der Anarchismus seinerseits lehnte die Demokratie als eine der Formen der Staatlichkeit ab; er lehnte auch die politische Revolution als Mittel zu deren Begründung ab.“ (Peter A. Arschinoff, Geschichte der Machno-Bewegung, Unrast Verlag, Münster 1098, S. 40.)
Welch eine Klarheit und revolutionäre Konsequenz im Verhältnis zur Demokratie! Für viele heutige linke KleinbürgerInnen ist Anarchie „direkte Demokratie“! Diese sozialreaktionäre Tendenz lässt und ließ nicht wenige AnarchistInnen in der Ukraine und in Belarus als erbärmlicher Schwanz der Liberaldemokratie agieren. Ukrainische AnarchistInnen verklärten die sozialreaktionäre Bewegung auf dem Maidan, die von prowestlichen DemokratInnen und faschistischen UltranationalistInnen angeführt wurde, zur „Revolution“. Diese „Revolution“ mündete 2014 jedoch nur im Sturz des Janukowitsch-Regimes und der Errichtung einer prowestlichen Regierung. Bei der Reproduktion des Staates. Zum Teufel mit dem libertären Schwanz der Bourgeoisie und des westlichen Menschenrechts-Imperialismus, den einige „AnarchistInnen“ bilden! Nicht nur in der Ukraine, sondern auch n Belarus. Während wirkliche SozialrevolutionärInnen sowohl das Lukaschenko-Regime als auch die liberaldemokratische und prowestliche Opposition in diesem Land bekämpfen.
Nehmen wir uns an den progressiven Tendenzen von Arschinoff ein Beispiel. Kritisieren wir scharf den Parteimarxismus und die Demokratie – einschließlich ihres „anarchistischen“ Schwanzes –, aber verbinden wir sie mit der revolutionärsten Tendenz des Marxismus, der materialistisch-dialektischen Geschichtsbetrachtung, die keinen Raum lässt für eine idealistische Verklärung der kleinbäuerlich-landproletarischen Machno-Bewegung.
Da wo die AnarchistInnen gegen die materialistisch-dialektische Gesellschaftsanalyse – die selbstverständlich von marxistischen Dogmen gereinigt werden muss – anschreiben, wird es sehr idealistisch. So schrieb der anarchosyndikalistische Ideologe Rudolf Rocker: „Das geistige Leben des Menschen wird nie ausschließlich oder auch nur hauptsächlich durch seine Zugehörigkeit zu einer besonderen Klasse bestimmt… Was die meisten Menschen einer sozialen Bewegung näher bringt, sind nicht die unmittelbaren Ergebnisse des modernen Wirtschaftslebens, sondern ein beleidigtes Gerechtigkeitsgefühl, dass sich gegen diese Verhältnisse auflehnt.“ (Zitiert nach Red Devil, Zur Kritik der Arbeiterbewegung, des Marxismus und der Linken, Bibliothek des Widerstandes, Lübeck 2004, S. 53.)
Total falsch! Das Bewusstsein von Klassen wird hauptsächlich von ihrer Stellung in den Produktionsverhältnissen geprägt. Auch das Gerechtigkeitsgefühl. Dieses ist bei Bourgeoisie und ProletarierInnen völlig gegensätzlich. Die großen WirtschaftsmanagerInnen organisieren die Ausbeutung der LohnarbeiterInnen und kassieren dafür verdammt hohe Gehälter. Das müssen sie natürlich sozialpsychologisch ausblenden, um funktionieren zu können. Also sind sie in ihrer Ideologieproduktion, falsches Bewusstsein, wie es aber notwendig aus dem sozialen Sein hervorgeht, verantwortlich für den Erhalt der Arbeitsplätze (=Ausbeutungsplätze) der Lohnabhängigen. Und wenn sie Leute zur Profitmaximierung entlassen „müssen“, dann tun sie das selbstverständlich nur, um die restlichen Arbeitsplätze erhalten zu können. Natürlich kostet auch die Organisation des kapitalistischen Ausbeutungsprozesses viel Kraft und Nerven. Damit rechtfertigen die ManagerInnen ihre hohen Gehälter, die natürlich in ihren Augen „gerecht“ sind. Viele ProletarierInnen finden dies nun wiederum überhaupt nicht gerecht. Nicht wenige finden ihre Löhne ungerecht niedrig. Einige finden es deshalb sehr gerecht, wenn sie kleinere Produktionsmittel und Produkte aus dem kapitalistischen Betrieb in ihren eigenen Haushalt umverteilen. Ihr Gerechtigkeitsgefühl kollidiert mit dem geschriebenen und gefühlten Recht der Bourgeoisie, dass das kapitalistische Eigentum an Produktionsmittel sanktioniert und rechtfertigt. Die KapitalistInnen wiederum finden diese proletarische Umverteilung überhaupt nicht gerecht. Da geben sie dem Pack so tolle Arbeitsplätze – und werden zum Dank auch noch bestohlen.
Wir sehen an diesem kleinen Beispiel, wie sich das Gerechtigkeitsgefühl von Bourgeois und klassenkämpferischen ProletarierInnen aufgrund ihrer unterschiedlichen Stellung im Produktionsprozess grundlegend unterscheidet. Das ihre jeweilige Ethik eine Klassenethik ist. Und es ist absolut falsch, wenn Erich Mühsam behauptet: „Jede Erklärung, was Gerechtigkeit sei, erübrigt sich. Denn das Vermögen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, ist eine dem Menschen von Natur innewohnende Gabe.“ (Zitiert nach Red Devil, Zur Kritik der Arbeiterbewegung, a.a.O., S. 54.) Das Gerechtigkeitsempfinden ist als Teil der Ethik kein Produkt der Natur, sondern der sozialen Verhältnisse der Menschen. Was Gerechtigkeit und was Unrecht ist, wird von den untereinander konkurrierenden Marktsubjekten und gegeneinander kämpfenden Klassen völlig unterschiedlich empfunden.
Übrigens fand es der anarchosyndikalistische Ideologe Rudolf Rocker sehr „gerecht“, während des Zweiten Weltkrieges, der von allen Seiten ein imperialistisches Abschlachten war, für den Kriegseintritt der USA zu trommeln. Ob die Angehörigen der zivilen Opfer des US-Imperialismus im Zweiten Weltkrieg das auch so „gerecht“ fanden?! Die überaus reichliche Ausdünstung von Moral hinderte viele kleinbürgerliche AnarchistInnen nicht daran, die kapitalistische Zivilisationsbarbarei mit zu organisieren. Rudolf Rocker war ein kleinbürgerlicher Ethiker einer angeblich über den Klassen stehenden Moral. Und ein Mitproduzent eines antifaschistischen Moralismus, der durch die Unterstützung des US-Imperialismus im Zweiten Weltkrieg über Leichen ging. KleinbürgerInnen produzieren kleinbürgerliche Moral. Im Fall Rockers war die überaus reichliche Moralausdünstung mit der massenhaften Leichenproduktion des Kapitalismus kompatibel. Er stellte seine Ethik in den Dienst des US-Imperialismus. Später passte er sich dem demokratischen Antikommunismus an, der mit einer revolutionären Kritik des Leninismus nicht das Geringste zu tun hat.
Der Anarchismus ist keine revolutionäre Alternative zum Parteimarxismus. Das lässt sich wunderbar am Buch Leuchtfeuer in der Karibik. Eine libertäre Betrachtung der kubanischen Revolution von Sam Dolgoff aus dem Jahre 1983 erkennen. Das Buch enthält nützliche Informationen über das staatskapitalistische Castro-Regime, aber eine materialistische und revolutionäre Kritik an ihm stellt es nicht dar. Während es für die marxistische und nachmarxistisch-kommunistische Kritik an den „sozialistischen“ Staaten am zentralsten ist, deren kapitalistischen Charakter nachzuweisen, fällt das oben genannte Buch durch eine unglaublich seichte und abstrakte „Freiheits“-Rhetorik auf. Liberal und libertär klingt nicht nur ähnlich vom Begriff her, sie sind auch geistesverwandt. Der Anarchismus ist letztendlich lediglich der radikalere Zwillingsbruder des Liberalismus, seine kommunistischen Tendenzen waren und sind viel zu schwach und unreif.
So lesen wir in dem Buch schon in der Einleitung folgendes idealistisches Freiheitsgedöns über Kuba: „Kubas gegenwärtiger ,Sozialismus‘ unterscheidet sich von der humanistischen und libertären Werten eines wirklichen Sozialismus wie die Tyrannei von der Freiheit.“ (Sam Dolgoff, Leuchtfeuer in der Karibik. Eine libertäre Betrachtung der kubanischen Revolution, Libertad Verlag, Westberlin 1983, S. 9.) An dem Zitat wird der Idealismus des Anarchismus deutlich. Es wird nicht materialistisch der nationalkapitalistische Charakter des kubanischen „Sozialismus“ analysiert, sondern idealistisch die Nichtübereinstimmung der materiellen Verhältnisse auf Kuba mit irgendwelchen kleinbürgerlichen Idealen – die übrigens allesamt privatkapitalistisch-demokratischen Ursprungs sind – festgestellt und es werden leere Freiheitsphrasen gedroschen. Und der kapitalistische Charakter Kubas und anderer „sozialistischer Staaten“ wird nicht klar erkannt: „…durch nichts unterscheidet sich das kubanische Militär von den Armeen der kapitalistischen und sozialistischen Großmächte.“ (Ebenda, S. 45.) Hier wird ein falscher Gegensatz zwischen privatkapitalistischen und angeblichen „sozialistischen Großmächten“ aufgemacht.
Und was bietet das Buch für Alternativen? Die Verwaltung der Industrie durch die Gewerkschaften statt durch den Staat, also Gewerkschaftskapitalismus statt Staatskapitalismus. Freiwillige GenossInnenschaften statt staatsförmige Zwangskollektive in der Landwirtschaft, erstere sind aber auch nur kleinbürgerlich-kollektive Formen der Warenproduktion. Gewerkschaftskapitalismus und kleinbürgerlich-kollektive Warenproduktion im Rahmen des demokratischen Staates – genau dies organisierte bekanntlich der Anarchosyndikalismus als struktureller Linksnationalist im spanischen BürgerInnenkrieg (siehe das Kapitel II.4 im 1. Teil). Und genau dieses Beispiel wird auch in dem Buch über Kuba hochgehalten. Die abstrakte „Freiheit“, mit dem der Autor Sam Dolgoff hausieren geht, entpuppt sich also konkret als bürgerliche, die „libertäre Betrachtung“ als anarchistischer Schwanz des privatkapitalistisch-demokratischen Antikommunismus.
Selbst kommunistische AnarchistInnen waren zu einer wirklichen revolutionären Kritik an der Warenproduktion unfähig. Proletarische RevolutionärInnen bekämpfen die asoziale Ware-Geld-Beziehung als verdinglichte menschlich-gesellschaftliche Erscheinung und reagieren sich nicht am Ding Geld beziehungsweise an den Banken ab. Unser nachmarxistischer und nachanarchistischer Kommunismus hat den negativen Geldfetischismus, der teilweise auch vom kommunistischen Anarchismus betrieben wurde, überwunden. Kritisieren wir den negativen Geldfetischismus im kommunistischen Anarchismus. Unter anderem zeigte die erste Phase der Bayerischen „Räterepublik“ (vom 7. bis zum 13. April 1919), dass die kommunistischen Anarchisten Mühsam und Landauer noch starke praktische und ideologische Berührungspunkte zum reaktionären wirtschaftsliberalen Flügel des Anarchismus hatten. So war in der ersten „Räterepublik“ der wirtschaftsliberale Anarchist Silvio Gesell mit Unterstützung von Landauer Mitglied der „Räteregierung“.
Der wirtschaftsliberal-anarchistische Silvio Gesell hatte nichts gegen die kapitalistische Warenproduktion an sich, als negativer Geldfetischist reagierte er sich am zinstragenden Bankkapital ab. Als ArbeiterInnen galten ihm fast alle Klassen und Schichten der kapitalistischen Gesellschaft, von den KönigInnen bis zu den HilfsarbeiterInnen – nur die von Kapitalzinsen Lebenden galten ihm als SchmarotzerInnen. Das war die alte Gegenüberstellung des „produktiven“ Kapitals, das in der Industrie und im Handel angelegt war, gegen das „schmarotzende“ zinstragende Kapital. Diese Ideologie, die nicht nur von Gesell produziert wurde, unterschlägt, dass im Kapitalismus nur das Proletariat und das KleinbürgerInnentum produktiv sind. Ersteres vermehrt durch dessen Arbeit das Kapital der Bourgeoisie. Der Zins, von dem einige Angehörige der Bourgeoisie leben, ist lediglich ein Teil des Mehrwertes, der durch die Ausbeutung des Proletariats entsteht. Auch unterschlug Gesell, dass es auch dem Industrie- und Handelskapital um die Vermehrung des Tauschwertes, also des Geldes, geht. Gießkannen, Panzer und pazifistische Bücher werden nur hergestellt, wenn ihre Produktion und Verkauf den KapitalistInnen mehr einbringen als das Ganze kostet. Allerdings verband Gesell seinen negativen Geldfetischismus nicht mit dem Antijudaismus, er stellte also das zinstragende Kapital nicht als „jüdisches“ dar. Total reaktionär war seine Ideologie trotzdem, weil sie die Quelle des kapitalistischen Geldreichtums, die Ausbeutung des Proletariats im Produktionsprozess, verdunkelte. Gesell war also ein Freund der kapitalistischen Warenproduktion und ein negativer Geldfetischist. Er kam auf die Idee ein „Schwundgeld“ oder „Knochengeld“ zu schaffen, das Geld sollte also aus einem Material geschaffen werden, das seine Substanz verlieren würde und deshalb nicht gehortet werden könnte…
Noch esoterisch-verblödeter war Gesells Freiland-Ideologie. Damit schuf er eine richtig reaktionäre Schollen- und Heimatideologie. Im Gegensatz zu den industriellen Produktionsmitteln, die auch nach Gesells Ideologie Privateigentum bleiben sollten, sollte der Boden verstaatlicht werden und an die Menschen verpachtet werden. Es ist klar, dass die Menschen mit dem meisten Geld auch das meiste Land hätten pachten können…
Erich Mühsam schrieb später über Gesell: „Gesells Freiland-Lehre ist stark anfechtbar, seine Geldtheorie dagegen scheint berufen, nicht, wie er annahm das Wirtschaftsregulativ der freiheitlichen Gesellschaft zu werden, wohl aber das Übergangsverfahren vom kapitalistischen Währungssystem zum geldlosen Kommunismus zu ermöglichen.“ (Erich Mühsam, Ein Wegbahner. Nachruf zum Tode Gesells 1930, in: Klaus Schmitt (Hg.), Silvio Gesell. Marx der Anarchisten? Texte zur Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapitalismus und der Kinder und Mütter vom patriarchalischen Bodenunrecht,Karin Kramer Verlag, Berlin 1989, S. 297.) Der letzte Satz ist natürlich Unsinn. Mühsam zeigt sich hier als negativer Geldfetischist, der sich am Ding Geld abreagiert, anstatt darüber nachzudenken wie die verdinglichten Tauschverhältnisse der Warenproduktion, also die Ware-Geld-Beziehung durch eine klassen- und staatenlose gesamtgesellschaftliche Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel aufgehoben werden kann (siehe Kapitel V.4).
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Auch war und ist der Anarchismus in seinen Hauptströmungen nicht konsequent antinational. Bakunin war während der Revolution von 1848/49 kein antinationaler Gegenspieler von Marx und Engels, sondern ein panslawisch-linksnationaler. Der kommunistische Anarchist Kropotkin nistete sich nach der Februarrevolution von 1917 in das entstehende und rasch verfaulende russische demokratische Regime ein und verteidigte dieses auch linksnationalistisch im Ersten Weltkrieg, den die DemokratInnen weiterführten. Zuvor hatte er sich schon im Jahre 1914 nationalistisch auf die Seite Frankreichs im imperialistischen Krieg gegen Deutschland gestellt. Auch nahm der Anarchosyndikalismus im spanischen BürgerInnenkrieg eine sozialreaktionär-linksnationalistische Haltung ein (siehe Kapitel I.6 im 1. Teil).
Selbst der kurdische Linksnationalist Öcalan knüpfte ideologisch an den Anarchismus an. Der Marxismus-Leninismus war durch die Transformation des globalen Staatskapitalismus in den Privatkapitalismus nicht mehr zeitgemäß. Wikipedia schreibt über die aktuelle Ideologie-Brühe, die Herr Öcalan in türkischer Haft zusammenpanschte: „In den letzten Jahren lässt er sich durch Murray Bookchins Konzept des confederalism zum sogenannten Demokratischen Konföderalismus inspirieren. Weitere Inspirationsquellen sind Immanuel Wallerstein, Fernand Braudel, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.“ (Wikipedia, Stichwort Abdullah Öcalan.) Das ist eine krude Mischung aus Linksliberalismus und libertär weichgespülten Marxismus und Anarchismus, die nichts anderes als eine ideologische Kapitulation gegenüber Privatkapitalismus und Demokratie als Staatsform bedeutet – aber gerade deshalb beim kleinbürgerlich-linken Publikum im Westen gut ankommt. Demokratischer Konföderalismus in der Türkei bedeutet nichts anderes, als dass die KurdInnen innerhalb des türkischen Nationalstaates eine Art Unternation bilden sollen. Doch das Einigeln in bestehende Nationalstaaten ist nicht weniger sozialreaktionär wie die Gründung von neuen. Sozialrevolutionär ist nur die Vorbereitung der möglichen weltweiten Zerschlagung aller Nationalstaaten.
Herr Öcalan strebt also für die Türkei etwas an, was die kurdischen NationalistInnen im Nordirak und in Nordsyrien sich im 21. Jahrhundert schon faktisch-praktisch erkämpft haben: die nationale Autonomie mit unterstaatlichen Strukturen innerhalb anderer bestehender Nationalstaaten. Im Irak nutzte der kurdische Nationalismus 2003 den imperialistischen Konflikt zwischen den USA und dem Saddam-Hussein-Regime um sich eine nationale Autonomie im sich neuformierenden irakischen Staat zu erobern. Beim imperialistischen Sturz des Hussein-Regimes diente sich der irakisch-kurdische Nationalismus den USA als Verbündeter an, dafür bekam er seine eigene politisch-territoriale Spielwiese zugewiesen. Auch im syrischen BürgerInnenkrieg (ab 2011) gelang es dem kurdischen Linksnationalismus im Bündnis mit dem US-Imperialismus autonome staatliche Strukturen innerhalb des Nationalstaates Syrien aufzubauen. Auch AnarchistInnen gehören zu den linken UnterstützerInnen des syrisch-kurdischen Linksnationalismus. Dieser ist entgegen dem „antikapitalistischen“ Geschwätz seiner linken Lautsprecher eindeutig privatkapitalistisch-prostaatlich. Die syrisch-kurdischen BerufspolitikerInnen haben lediglich die Förderung von GenossInnenschaften als kleinbürgerlich-kollektiver Form der Warenproduktion als Nische im Weltkapitalismus versprochen. Doch das reicht linken KleinbürgerInnen, um internationalistisch den kapitalistischen kurdischen Linksnationalismus zu unterstützen…
Große Teile des Anarchismus in der Ukraine zeigten während des Angriffskrieges des russischen Imperialismus auf dieses Land ab dem 24. Februar 2022, wie chauvinistisch-nationalistisch verblödet sie sind. Sie verteidigten den ukrainischen Staat sowie den NATO-Imperialismus und organisierten auf diese Weise diesen Stellvertreterkrieg mit.
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