3. Marx/Engels zwischen Kapitalismuskritik und nationalkapitalistischer Politik

August 27th, 2024

Die beiden bürgerlichen Intellektuellen Marx und Engels – von ihrem sozialen Biotop her waren und blieben Marx und Engels ein Leben lang bürgerliche Intellektuelle, das ist keine Denunziation, sondern eine nüchterne Feststellung – schufen zwischen 1844 und 1848 die Grundlage dessen, was mensch heute Marxismus nennt. Sie nannten es „wissenschaftlichen Kommunismus“. Das war und ist von den MarxistInnen als Abgrenzung zum utopischen ArbeiterInnenkommunismus gemeint. Nun, wir heutigen nachmarxistischen und nachanarchistischen KommunistInnen kritisieren die Wissenschaft grundsätzlich als bürgerlich-elitäres Bewusstsein – was natürlich nicht heißt, dass wir alle theoretischen Forschungsergebnisse von ihr ablehnen würden – und streben ihre revolutionäre Aufhebung in einer hochentwickelten Allgemeinbildung einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft an. Der Marxismus stellte geschichtlich ein höheres Niveau der Kapitalismus-Kritik dar. Er knüpfte ideengeschichtlich am utopischen ArbeiterInnenkommunismus an, aber auch am naturwissenschaftlichen Materialismus und an der idealistischen Dialektik Hegels. Aus den Letztgenannten schufen er eine Synthese, nämlich die materialistisch-dialektische Weltbetrachtung als revolutionäre Denkmethode, auf der auch seine Analyse und Kritik des Kapitalismus fußte. Die Schaffung der Grundlagen der materialistisch-dialektischen Denkmethode ist das bleibende Verdienst von Marx und Engels, an der auch wir nachmarxistischen und nachanarchistischen KommunistInnen kritisch-schöpferisch anknüpfen. Allerdings muss diese Denkmethode von marxistischen Dogmen gereinigt werden. Dies wurde durch die Praxis notwendig und möglich.

Dazu gehört auch eine materialistisch-dialektische Kritik des Marxismus. Diesen sehen wir als eine wichtige Etappe der Entwicklung des modernen Kommunismus an, der aber aufgrund seiner Unreife auch antikommunistische Tendenzen hatte und schließlich in Form des Marxismus-Leninismus und Trotzkismus in staatskapitalistischen Nationalismus umschlug. Schon bei Marx und Engels hatte der „proletarische Internationalismus“ eindeutig linksnationale Tendenzen, ja war objektiv Teil des bürgerlichen Internationalismus.

Zur konsequenten Bekämpfung der bürgerlichen Nationalstaaten braucht mensch ein antipolitisches, antinationales und antikapitalistisches Bewusstsein. Alle drei bilden ein untrennbares Dreieck der sozialrevolutionären Theorie und Praxis. Nun, der Marxismus war in der Praxis nicht antipolitisch und antinational – und deshalb auch nicht wirklich antikapitalistisch. Aber es gab bei Marx in seinen Frühschriften gewisse antipolitische Tendenzen, die aber nicht zu seiner eigenen Praxis wurden und die der politische Parteimarxismus nur praktisch in den Dreck treten konnte. So schrieb Marx 1844: „Wo es politische Parteien gibt, findet jede den Grund eines jeden Übels darin, dass statt ihrer ihr Widerpart sich am Staatsruder befindet. Selbst die radikalen und revolutionären Politiker suchen den Grund des Übels nicht im Wesen des Staates, sondern in einer bestimmten Staatsform, an deren Stelle sie eine andere Staatsform setzen wollen.“ (Karl Marx, Kritische Randglossen, MEW Bd. 1, S. 401.)

Dies ist auch eine sehr gute Kritik am Parteimarxismus, der die sozialreaktionäre Tradition der Politik fortsetzte. Die marxistischen Parteien reproduzierten ein kleinbürgerliches BerufspolitikerInnentum, welches die Klassenspaltung der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck brachte, aber nicht überwinden konnte. PolitikerInnen müssen nach Macht streben, so wie KapitalistInnen nach Profit streben müssen. KapitalistInnen, die nicht nach Profit streben und diesen nicht zur Vermehrung des Kapitals verwenden, sondern diesen zum größten Teil in soziale Projekte investieren, können sich im Konkurrenzkampf mit anderen KapitalistInnen nicht lange behaupten. So ähnlich ist es auch mit PolitikerInnen, die in ihrem Geschäft noch zu sehr an Ideen und Zielen gebunden sind, die mit der Erringung und Erhaltung der politischen Macht nichts oder nicht viel zu tun haben – sie werden innerhalb ihrer eigenen Partei von den skrupellosen MachtopportunistInnen verdrängt.

Politik als staatsförmige Organisation der Industriegesellschaft reproduziert das Kapital und der Kapitalismus reproduziert die bürgerliche Politik in Form des Nationalstaates. Auch der sozialdemokratische und „kommunistische“ Parteimarxismus reproduzierte das Kapital. Die Sozialdemokratie des Westens schmiegte sich an eine starke Bourgeoisie an und wurde Teil der privatkapitalistischen Sozialreaktion. Dabei warf die Sozialdemokratie die marxistische Ideologie über Bord. Der Partei-„Kommunismus“ eroberte entweder selbständig in industriell unterentwickelten Ländern in Osteuropa und im Trikont oder auch in industriell entwickelten Gebieten (zum Beispiel Ostdeutschland) mit „Hilfe“ des sowjetischen Imperialismus die politische Macht. In diesen Nationen etablierte sich für eine gewisse Zeit der Staatskapitalismus. Der Marxismus-Leninismus wurde zur Herrschaftsideologie des Staatskapitalismus.

Aber die oben zitierte scharfe Kritik an der Politik von Marx ging auch schon in der eigenen Praxis und in der seines Freundes Engels als Politideologen der internationalen institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung (Bund der Kommunisten, Internationale Arbeiterassoziation, Sozialistische Internationale) verloren. Die Politik, die Marx und Engels betrieben, war objektiv nationalkapitalistisch, da im Industriezeitalter jede Realpolitik nur Nation und Kapital reproduzieren kann.

Schauen wir uns dies genauer an. Nachdem Marx und Engels die Grundlagen ihrer Theorie geschaffen hatten, gründeten sie Anfang 1846 in Brüssel das Kommunistische Korrespondenz-Komitee. Es verfolgte das Ziel ihren wissenschaftlichen Kommunismus zur führenden Ideologie der jungen Bewegung zu machen. Marx und Engels gelang es mit Hilfe dieser Organisation den Bund der Gerechten in den Bund der Kommunisten umzuformen. Diese praktisch-geistige Transformation stellte der Übergang vom utopischen ArbeiterInnenkommunismus zum Marxismus dar. Das Kommunistische Korrespondenz-Komitee übte einen immer größeren geistigen Einfluss auf den Bund der Gerechten aus. Am 30. März 1846 kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Marx auf der einen und Weitling als Theoretiker des utopischen ArbeiterInnenkommunismus auf der anderen Seite. In diesem Streit kritisierte Marx auch den Putschismus Weitlings.

Dieser geistige Streit endete innerhalb des Bundes der Gerechten mit dem Sieg des wissenschaftlichen Kommunismus. Im Januar 1847 forderte dessen Zentrale in London Marx und Engels auf, dem Bund beizutreten und an dessen Reorganisation mitzuwirken. Marx und Engels traten bei. Er wurde 1847 in Bund der Kommunisten umbenannt. Dieser war wie sein Vorläufer eine internationale politische Organisation der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung. Sie stellte gewissermaßen den Beginn des marxistischen „proletarischen Internationalismus“ dar. Die von Marx geprägte Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ wurde zum Kampfruf des Bundes der Kommunisten. Und diese Losung ist auch noch heute – wenn auch in viel reiferer Form – die Quintessenz des antinational-sozialrevolutionären Universalismus.

Doch beim Bund der Kommunisten war dies noch nicht antinational, sondern lediglich übernational gemeint. Der Marxismus war noch nicht antinational, sein Internationalismus war gleichzeitig ein Linksnationalismus. Im Marxismus entwickelte sich der dialektische Widerspruch zwischen einer materialistisch-dialektischen Kapitalismuskritik und einer staatskapitalistischen Ideologie-Produktion. Das von Marx und Engels Anfang 1848 geschriebene Manifest der kommunistischen Partei stellte ein staatskapitalistisches Programm dar. Dass der angeblich erste Schritt zur kommunistischen Aufhebung des Kapitalismus die politische Eroberung der Staatsmacht durch das Proletariat sei – was in Wirklichkeit nur die kapitalistische Produktionsweise reproduzieren konnte – übernahm der Marxismus vom politischen Flügel des utopischen ArbeiterInnenkommunismus: „Wir sahen schon oben, dass der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist. Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, die Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.“ (Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei, Dietz Verlag Berlin 1977, S. 66.) Also, als erste Etappe der sozialen Revolution die Verstaatlichung der Produktionsmittel – Staatskapitalismus!

Natürlich wollten Marx/Engels keinen Staatskapitalismus schaffen, sondern die Aufhebung der Lohnarbeit durch den Kommunismus erreichen. Und in diesem Kommunismus sollte es kein Staat mehr geben. Der Staat sollte nach der Revolution „friedlich“ absterben. Im Manifest hieß es: „Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter. Die politische Gewalt im eigentlichen Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen. Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf. An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ (Ebenda, S. 68.)

Marx und Engels veränderten auch ihre Auffassung vom Staat unter dem Einfluss der Pariser Kommune. Sie schrieben im deutschen Vorwort von 1872 zum Manifest der kommunistischen Partei: „Gegenüber der immensen Fortentwicklung der großen Industrie in den letzten fünfundzwanzig Jahren und der mit ihr fortschreitenden Parteiorganisation der Arbeiterklasse, gegenüber den praktischen Erfahrungen, zuerst der Februarrevolution und noch weit mehr der Pariser Kommune, wo das Proletariat zum ersten mal zwei Monate lang die politische Gewalt innehatte, ist dieses Programm heute stellenweise veraltet. Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, dass ,die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann.‘ (Siehe Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrahts der Internationalen Arbeiter-Association (…) wo dies weiter entwickelt ist.)“ (Ebenda, S. 10.)

Diese Stelle ist aber nicht in dem Sinne misszuverstehen, dass Marx/Engels vollständig ihr altes reformistisches Programm zur Aufhebung des Staates über Bord geworfen hatten. So schrieb Marx 1875 in Kritik des Gothaer Programms: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen Gesellschaft in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann, als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“ (MEW, Bd. 19, S. 28.)

Die Theorie von Marx/Engels verbindet also eine grundsätzliche Staatsfeindlichkeit mit einer reformistischen Idee des Absterbens des Staates. Diese Theorie ist falsch. Denn der Staat ist ein hierarchisches Instrument, das vom Proletariat unmöglich beherrscht werden kann. Durch die staatliche Besitzergreifung der Produktionsmittel ergibt sich eine riesige Machtfülle für eine entstehende Staatsbourgeoisie. Doch Marx/Engels haben ihre Staatsfeindlichkeit subjektiv ehrlich gemeint. Sie lässt sich aber durch ihr reformistisches Programm nicht verwirklichen. Wir übernehmen von Marx/Engels die grundsätzliche Staatsfeindlichkeit, lehnen aber ihren Reformismus in dieser Frage ab.

Der marxistische „proletarische Internationalismus“ war also von Anfang an eine staatskapitalistische Variante des bürgerlichen Internationalismus als Interaktion der Nationen. Der Antikapitalismus war zwar von Marx und Engels subjektiv ehrlich gemeint, wurde aber objektiv zu einer Ideologie einer nationalkapitalistischen Politik.

Marx und Engels waren die geistigen Urgroßväter des nationalkapitalistischen „Sozialismus“. Sie waren aber auch dessen ersten Kritiker. Im zweiten Band von Kapital gab Marx folgende Erklärung für das „gesellschaftliche Kapital = Summe der individuellen Kapitale (inkl. der Aktienkapitale resp. des Staatskapitals, soweit Regierungen produktive Lohnarbeit in Bergwerken, Eisenbahnen etc. anwenden, als industrielle Kapitalisten fungieren)“. (Karl Marx, Das Kapital. Zweiter Band, Dietz Verlag Berlin 1975, S. 101.) Friedrich Engels schrieb im Anti-Dühring: „Aber weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften noch die in Staatseigentum, hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf.“ (Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in MEAW Bd. V., S. 305.) So kann die materialistische Dialektik mit Hilfe der revolutionären Tendenzen des Marxismus die „sozialistischen Länder“ als staatskapitalistisch analysieren.

Aber bereits das Agieren von Marx und Engels in Deutschland während der Revolution von 1848/49 war objektiv nationaldemokratisch-staatskapitalistisch, also sozialreaktionär. Marx/Engels hielten als bürgerliche Intellektuelle den Kapitalismus trotz aller Kritik an ihm für „fortschrittlich“ gegenüber dem Feudalismus. Doch der Kapitalismus war aus heutiger sozialrevolutionärer Sicht von Anfang an absolut sozialreaktionär. Indem der Marxismus den modernen, auf doppelt freier Lohnarbeit beruhenden Industriekapitalismus im Kampf gegen vorindustriekapitalistische Zustände unterstützte, wurde er latent sozialreaktionär. So als der von Marx und Engels geführte Bund der Kommunistenwährend der Revolution von 1848/49 gegen die Kleinstaaterei und den Fürstenabsolutismus im deutschen Sprachraum einen großdeutschen – also einschließlich der österreichischen Gebiete, wo vorwiegend deutsch gesprochen wurde – und parlamentarisch-republikanischen Nationalstaat mit Staatseigentum an Banken, Transportmitteln, Gruben und Bergwerken forderten. Marx und Engels forderten also einen bürgerlichen Staat, da nach ihrer richtigen Einschätzung in Deutschland die objektiven und subjektiven Bedingungen für eine siegreiche soziale Revolution noch nicht reif waren. So richtig wie diese Einschätzung auch war, so falsch war die Schlussfolgerung. Doch der Kommunismus war damals noch nicht reif für folgende Schlussfolgerung: SozialrevolutionärInnen müssen auch unter Bedingungen, die noch nicht reif für die soziale Revolution sind, konsequent gegen alle Klassengesellschaften und Staaten kämpfen. Vor der Isolation von allen bürgerlichen Kräften, in die sie dadurch geraten, dürfen sie keine Angst haben. Die Forderung nach einem deutschen, parlamentarisch-demokratisch-republikanischen Nationalstaat mit Staatseigentum an Banken, Transportmitteln, Gruben und Bergwerken war objektiv nationalkapitalistisch und sozialreaktionär.

In Frankreich war eine solche demokratisch-republikanische Staatsform Ergebnis der Februarrevolution von 1848. Und sie erwies sich von Anfang an als strukturelle Klassenfeindin des Proletariats. Im Juni 1848 organisierte die demokratische Republik in Frankreich ein Massenmord am klassenkämpferischen Proletariat. Marx und Engels verurteilten dies scharf, hielten aber an der Forderung nach einer demokratischen Republik für Deutschland fest. In der Revolution von 1848/49 erwies sich also der „proletarische Internationalismus“ des Bundes der Kommunisten in der Praxis als bürgerlicher Internationalismus, als Interaktion der Nationen. In Deutschland agierte er als eine nationaldemokratische Kraft. Der Bund der Kommunisten war in der politischen Praxis kleinbürgerlich-internationalistisch und linksnational, weil er noch nicht reif zu einer antinationalen Antipolitik – die auch wirklich antikapitalistisch gewesen wäre – war. Er war deshalb auch nicht wirklich sozialrevolutionär, sondern kleinbürgerlich-radikal. Der Bund der Kommunisten löste sich im Jahre 1852 auf.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich vor allem in Europa die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung als bürokratisch entfremdeter Ausdruck des reproduktiven Klassenkampfes im Rahmen des Kapitalismus. Die politischen „ArbeiterInnen“-Parteien und Gewerkschaften waren von ihrem Inhalt und ihren Formen her von Anfang an bürgerlich. Sie reproduzierten die Klassenspaltung des Kapitalismus in Form von bürgerlich-bürokratischen Partei- und Gewerkschaftsapparaten und einer weitgehend ohnmächtigen kleinbürgerlich-proletarischen Basis. Die Apparate der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung aus hauptamtlichen FunktionionärInnen sowie BerufspolitikerInnen und -ideologInnen bestand größtenteils aus kleinbürgerlichen Intellektuellen und ehemaligen Lohnabhängigen. Gewerkschaften wurden im 20. Jahrhundert durch das Tarifvertragssystem zu Co-Managerinnen der kapitalistischen Ausbeutung der Lohnarbeit, während sozialdemokratische und „kommunistische“ Parteien als regierende Charaktermasken den Kapitalismus in privater und verstaatlichter Form reproduzierten.

Die sich im 19. Jahrhundert heraus entwickelnde institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung erwies sich im 20. Jahrhundert sozialreaktionär und konterrevolutionär. Sie war auch im 19. Jahrhundert nur in der Ideologie „revolutionär“, in der Praxis war sie sozialreformistisch. Gewerkschaften strebten praktisch eine Milderung der kapitalistischen Ausbeutung der Lohnarbeit an, deren Aufhebung teilweise nur ideologisch. Doch ihre Apparate – einschließlich der anarchosyndikalistischen Gewerkschaften – integrierten sich in der Wirklichkeit immer stärker in den Kapitalismus. Die sozialdemokratischen Parteien betrieben in der Wirklichkeit einen parlamentarischen Sozialreformismus und integrierten sich in Westeuropa immer stärker in die Demokratie. Die kleinbürgerlichen BerufspolitikerInnen und -ideologInnen der Sozialdemokratie strebten in ihrer Mehrheit materiell und sozialpsychologisch danach großbürgerlich zu werden, das heißt nach der vollen Anerkennung durch die Bourgeoisie als deren politisches Regierungspersonal.

Marx und Engels waren Politideologen der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung. Sie reproduzierten ideologisch die Grenzen des reproduktiven Klassenkampfes und passten sich an den gewerkschaftlichen und parlamentarischen Sozialreformismus sowie das nichtrevolutionäre Bewusstsein der Mehrheit des Proletariats an. Sie kritisierten lediglich die gröbsten Auswüchse des gewerkschaftlichen und parlamentarischen Sozialreformismus, aber eben diesen nicht grundsätzlich. Im 19. Jahrhundert – also zur Wirkungszeit von Marx und Engels – hatte sich die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung noch nicht offen sozialreaktionär und konterrevolutionär erwiesen. Sie konnten also noch nicht Klassenkampferfahrungen theoretisch verallgemeinern, die den totalen Klassengegensatz zwischen Proletariat und institutionalisierter ArbeiterInnenbewegung offenlegten. Aber Marx und Engels passten sich ideologisch immer stärker an den Sozialreformismus an. Der vorgeblich „revolutionäre“ Marxismus wurde in der Praxis sozialreformistisch und der praktische Sozialreformismus der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung wurde teilweise ideologisch „revolutionär“, indem er sich zum Marxismus bekannte. Natürlich war der Marxismus nur eine Ideologie von vielen innerhalb der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung

Die globalen Partei- und Gewerkschaftsapparate strebten bereits im 19. Jahrhundert zur übernationalen Interaktion, zum Internationalismus. Doch dieser „proletarische Internationalismus“ der Partei- und Gewerkschaftsapparate war eben nicht antinational, sondern lediglich übernational. So wurde im Jahre 1864 von englischen GewerkschafterInnen und französischen EmigrantInnen in London die Internationale Arbeiterassoziation (IAA) gegründet. Marx wurde als Mitglied des vorläufigen Organisationskomitees eingeladen und er hatte entscheidenden praktischen Einfluss auf dieses.

Auch der „proletarische Internationalismus“ der Internationalen Arbeiterassoziation erwies sich in der politischen Praxis als bürgerlich-internationalistisch und linksnational. Zum Beispiel in seiner Haltung zum US-amerikanischen BürgerInnenkrieg (1861-1865). Die Internationale Arbeiterassoziation unterstützte in diesem die industriekapitalistischen Nordstaaten gegen die agrarkapitalistischen Südstaaten. Das war objektiv sozialreaktionär. Wirklich antinational-sozialrevolutionäre Kräfte hätten beide kriegführende Seiten gleichermaßen bekämpfen müssen. Gegen Sklaverei und Lohnarbeit! Indem die Internationale Arbeiterassoziation die Herausbildung der kapitalistischen Industrienation USA „kritisch“ unterstützte, war sie bürgerlich-internationalistisch und linksnational. Ihre führenden VertreterInnen – einschließlich von Karl Marx – schleimten sich bei Abraham Lincoln, der regierenden Charaktermaske der auf der Ausbeutung der Lohnarbeit beruhenden US-amerikanischen Industrienation, durch einen Brief, der zwischen dem 22. und 29. November 1864 geschrieben wurde, so richtig ein.

Und zum bürgerlichen Internationalismus der Internationalen Arbeiterassoziation passte auch ihr zunehmender parlamentarischer Sozialreformismus. In seiner Rede zum Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation 1872 in Den Haag sagte Marx: „Der Arbeiter muss eines Tages die politische Gewalt ergreifen, um die neue Organisation der Arbeit aufzubauen… Aber wir haben nicht behauptet, dass die Wege, um zu diesem Ziel zu gelangen, überall dieselben seien… und wir leugnen nicht, dass es Länder gibt, wie Amerika, England, und wenn mir eure Institutionen besser bekannt wären, würde ich vielleicht noch Holland hinzufügen, wo die Arbeiter auf friedlichem Wege zu ihrem Ziel gelangen können.“ (Karl Marx, Rede über den Haager Kongress, in: MEW 18, S. 160.) Wenn sich das Proletariat sozial befreien will, muss es den Staat zerschlagen! Von dieser sozialrevolutionären Wahrheit war die Internationale Arbeiterassoziation meilenweit entfernt. Sie war objektiv eine bürgerlich-sozialreformistische, und damit eine sozialreaktionäre Kraft, die das Proletariat in die kapitalistische Politik zu integrieren half.

Marx orientierte als führender Politideologe der Internationalen Arbeiterassoziation auf die „politische Machteroberung durch die ArbeiterInnenklasse“. Doch die ArbeiterInnenklasse kann gar nicht die politische Macht erobern, dass konnten in der Praxis nur marxistische BerufspolitikerInnen im Namen, aber gegen die Interessen des Proletariats. Weil die politische Machteroberung nur die kapitalistische Produktionsweise reproduzieren kann. Der Streit zwischen den Parteimarxismen wurde später nur darum geführt, ob die politische Macht in Form von freien Wahlen oder durch Staatsstreiche beziehungsweise Guerillakriege erobert werden sollte. Und einige von marxistischen Politbonzen beherrschte Staaten verleibten sich dann alle industriellen Produktionsmittel ein und beuteten die Lohnarbeit aus. Der kommunistische Anarchismus und Anarchosyndikalismus waren und sind mit ihren Gewerkschaftsfetischismus, ihrer BäuerInnentümelei und ihrer Verherrlichung von genossenschaftlicher „Selbstorganisation“ im Rahmen von Kapital und Staat selbst stark von sozialreaktionären Tendenzen geprägt, aber den staatkapitalistischen Charakter des Marxismus kritisierten diese Strömungen schon früh und weitsichtig. Am politideologischen Streit zwischen Marx und Bakunin zerbrach auch die Internationale Arbeiterassoziation. Sie löste sich 1876 auf.

Im Jahre 1889 bildeten die sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften der verschiedenen Nationen die Sozialistische Internationale (auch Zweite Internationale) genannt. Friedrich Engels war der inoffizielle Chefideologe der Sozialistischen Internationale – und ihres Sozialreformismus. Der alte Engels kam immer mehr zu der „Erkenntnis“, dass die Eroberung des Staates Aufgabe der „ArbeiterInnenpartei“ sei – also eines bürgerlichen Wahlvereines. So schrieb er 1895 – auch unter dem Druck sozialdemokratischer Parteifunktionäre: „Mit dieser erfolgreichen Benutzung des allgemeinen Stimmrechts war aber eine ganz neue Kampfweise des Proletariats in Wirksamkeit getreten, und diese bildete sich rasch weiter aus. Man fand, dass die Staatseinrichtungen, in denen die Herrschaft der Bourgeoisie sich organisierte, noch weitere Handhaben bietet, vermittelst deren die Arbeiterklasse diese selben Staatseinrichtungen bekämpfen kann. Man beteiligte sich an den Wahlen für Einzellandtage, Gemeinderäte, Gewerbegerichte, man machte der Bourgeoisie jeden Posten streitig, bei dessen Besetzung ein genügender Teil des Proletariats mitsprach. Und so geschah es, dass Bourgeoisie und Regierung dahin kamen, sich weit mehr zu fürchten vor der gesetzlichen als vor der ungesetzlichen Aktion der Arbeiterpartei, vor den Erfolgen der Wahl als vor denen der Rebellion.“ (Friedrich Engels, Einleitung zu Karl Marx` Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in MEW Bd.7, S. 520.) Der parlamentarische Sozialreformismus des Marxismus war und ist objektiv antikommunistisch.

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Weiter oben haben wir geschrieben, dass die Schaffung der Grundlagen einer materialistisch-dialektische Weltbetrachtung – Natur, menschliche Gesellschaft und Erkenntnisentwicklung – sowie einer auf dieser fußenden Analyse und Kritik des Kapitalismus die bleibenden Verdienste von Marx und Engels waren. Hier wollen wir aufzeigen, dass der Marxismus von Anfang an auch nur eine inkonsequente Verwirklichung der materialistisch-dialektischen Gesellschaftsanalyse war. Es gab im Denken von Marx und Engels starke geschichtsidealistische und technokratische Tendenzen – also einen tendenziellen Rückfall in den naturwissenschaftlichen Materialismus der Bourgeoisie. Mit diesem wollen wir uns hier auseinandersetzen. Dabei werden auch die methodischen Unterschiede zwischen dem Marxismus und dem nachmarxistischen und nachanarchistischen Kommunismus deutlich.

So ist der Kommunismus für uns eine materiell verwurzelte Möglichkeit, die sich aus der radikalen Zuspitzung des Klassenkampfes in extremen Ausnahmesituationen ergeben kann (siehe Kapitel V.1). Für Marx war dies zu wenig. Für ihn war der Kommunismus eine automatische Gesetzmäßigkeit. So schrieben er und Engels: „Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst weggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“ (Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 474.) Im Kapital erhob Marx dann diesen Geschichtsdogmatismus vom angeblichen „gesetzmäßigen und unvermeidlichen Sieg der ArbeiterInnenklasse“ zu einer „Naturnotwendigkeit“: „Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation.“ (Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, Dietz-Verlag Berlin 1973, S. 791.)

Im Marxismus gab und gibt es auch starke technokratische Tendenzen. So sind viele MarxistInnen ganz begeistert von der Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte, ohne die sozialen Folgen weiter zu betrachten. Auch hierin können sie sich auf Marx als Geschichtsphilosophen berufen. In seiner geschichtsphilosophischen Konstruktion hatte das Kapital die historische Mission die Produktivkräfte zu entwickeln. So schrieb er im 3. Band des Kapitals über den bürgerlichen Ökonomen Ricardo: „Was ihm vorgeworfen wird, dass er um die ,Menschen‘ unbekümmert, bei Betrachtung der kapitalistischen Produktion nur die Entwicklung der Produktivkräfte im Auge hat – mit welchen Opfern an Menschen und Kapitalwerten immer erkauft – ist gerade das Bedeutende an ihm. Die Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit ist die historische Aufgabe und Berechtigung des Kapitals. Eben damit schafft es unbewusst die materiellen Bedingungen einer höhern Produktionsform.“ (MEW 25, S. 269.) Durch diese technokratische Sichtweise verstieg sich Friedrich Engels während der Revolution von 1848/49 die imperialistische Eroberung großer Teile Mexikos durch die USA zu rechtfertigen, weil durch diese die kapitalistischen Produktivkräfte enorm weiterentwickelt wurden!

Diese technokratischen Tendenzen des Marxismus stehen im engen Zusammenhang mit seinen naiv fortschrittsgläubigen, geschichtsidealistischen und dogmatischen Bestandteilen. Wir wissen ja schon, dass bei Marx der Kommunismus so sicher war, wie der Morgen nach der Nacht. Mit einer solchen Ideologie einer naturnotwendigen Entwicklung der Gesellschaft wird die Kritik an den kapitalistischen Produktivkräften als Zerstörern der menschlichen und außermenschlichen Natur doch stark abgeschwächt. Das Kapital, welches Marx als Kritiker der politischen Ökonomie scharf kritisiert, bekommt bei ihm eine geschichtsphilosophische Mission – ähnlich wie das Proletariat. Das Kapital entwickelt die Produktivkräfte (dessen historische Mission) und die ArbeiterInnenklasse übernimmt diese und führt sich und die ganze Menschheit zum Kommunismus (die historische Mission des Proletariats). Jede Klasse hat also eine von der Geschichte klar vorgezeichnete Aufgabe. Der historische Materialismus wird zum Automatismus und das Kapital schafft technologischen Fortschritt, der naturnotwendig zum Kommunismus führt, seine Barbarei ist nur von kurzer Dauer. Der lebendige Mensch verschwindet hinter einer historisch vorgegebenen Entwicklung der Produktivkräfte. Der Glaube an „historische Missionen“ ist nicht weniger religiös als der an den heiligen Geist. Es gibt in der menschlichen Geschichte keine „objektiven Gesetzmäßigkeiten“ ohne subjektive Tat. Zwischen beiden gibt es sehr enge Wechselwirkungen. Eine objektive sozialrevolutionäre Möglichkeit wird ohne radikale subjektive Aktion nicht zum wirklichen sozialrevolutionären Prozess und ein subjektiver Wille zur sozialrevolutionären Veränderung wird ohne die dazu notwendigen objektiven Bedingungen nicht zur materiellen Gewalt.

Wir sehen also, dass sich das sozialdemokratische und partei-„kommunistische“ TechnokratInnentum auch zu Recht auf Marx berufen kann. Diese reaktionären Tendenzen des Marxismus waren im sowjetischen Marxismus-Leninismus sehr stark ausgeprägt und sie sind auch bei einigen LinksmarxistInnen festzustellen.

Wir sind radikale Kapitalismus-KritikerInnen aber keine Idealistinnen des „technologischen Fortschritts“. Dabei stehen wir in der Tradition der sozialrevolutionären Tendenz bei Marx. Denn Marx war noch immer der beste Kritiker von Marx. Wenn er auch verblendet war von seiner geschichtsphilosophischen Konstruktion, so erkannte er dennoch grundsätzlich, dass technologischer Fortschritt der Produktivkräfte nicht unbedingt mit sozialem Fortschritt verbunden sein musste, ja oft in der Entwicklung technologischer Fortschritt durch sozialen Rückschritt erkauft wurde. So schrieb er: „Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte gemeistert und der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte.“ (MEW 9, S. 226.) Was der Geschichtsphilosoph Marx verkleisterte und idealisierte, nahm der Marx als Kritiker der politischen Ökonomie schonungslos auseinander: „Jeder Fortschritt ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit (zugleich) ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. (…) Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, (1867) MEW Bd. 23, Dietz Verlag, Berlin 1988, S. 529/530.)

Marx mahnte einen schonenden menschlichen Umgang mit der Natur an, die im Kapitalismus nicht möglich ist, aber in einer klassenlosen Gesellschaft zu einer Selbstverständlichkeit gehören sollte: „Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias (gute Familienväter) den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“ (Karl Marx, Das Kapital Bd. 3, (1894)MEW Bd. 25, Dietz Verlag, Berlin 1972, S. 784.) Wenn auch die Formulierung verdammt patriarchal rüberkommt, ist die Warnung vor menschlichem Größenwahn, sich über die Natur als ihr absoluter Beherrscher erheben zu können, heute aktueller als damals.

Friedrich Engels blies in das gleiche Horn: „Schmeicheln wir uns nicht zu sehr mit unseren menschlichen Erfolgen über die Natur. Für jeden solchen Sieg, rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen, träumten nicht, dass sie damit den Grundstein zur jetzigen Verödung jener Länder legten, indem sie ihnen mit den Wäldern die Ansammlungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen. Die Italiener der Alpen, als sie die am Nordhang des Gebirges so sorgsam gehegten Tannenwälder am Südhang vernutzten, ahnten nicht, dass sie damit der Sennwirtschaft auf ihrem Gebiet die Wurzel abgruben; sie ahnten noch weniger, dass sie dadurch ihren Bergquellen für den größten Teil des Jahres das Wasser entzogen, damit diese zur Regenzeit umso wütendere Flutströme über die Ebene ergießen könnten. Die Verbreiter der Kartoffel in Europa wussten nicht, dass sie mit den mehligen Knollen zugleich die Skrofelkrankheit verbreiten. Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand der außer der Natur steht – sondern dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn und dass unsre ganze Herrschaft über sie besteht, im Vorzug vorallen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“ (Friedrich Engels, Dialektik der Natur, Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 190/191.)

So weit so gut. Doch wie das bei Engels nun mal so war, folgte darauf ein Abschnitt, der nicht auf soziale Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse setzte, sondern auf die bürgerliche Naturwissenschaft: „Und in der Tat lernen wir mit jedem Tag ihre Gesetze richtiger verstehn und die näheren und entfernteren Nachwirkungen unsrer Eingriffe in den herkömmlichen Gang der Natur erkennen. Namentlich seit den gewaltigen Fortschritten der Naturwissenschaften werden wir mehr und mehr in den Stand gesetzt, auch die entfernteren Nachwirkungen wenigstens unserer gewöhnlichsten Produktionshandlungen kennen und damit beherrschen zu lernen. Je mehr dies aber geschieht, desto mehr werden sich die Menschen wieder als eins mit der Natur nicht nur fühlen, sondern auch wissen, und je unmöglicher wird jene widersinnige und widernatürliche Vorstellung von einem Gegensatz zwischen Geist und Materie, Mensch und Natur, Seele und Leib, wie sie seit dem Verfall des klassischen Altertums in Europa aufgekommen und im Christentum ihre höchste Ausbildung erhalten hat.“ (Ebenda, S. 191.) Doch dazu ist die soziale Revolution nötig. Die bürgerliche Naturwissenschaft hat nur zur Ausbeutung lohnabhängiger Menschen durch den Kapitalismus sowie zur weiteren Entfremdung zwischen Natur und selbstentfremdeten Menschen beigetragen.

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