10. Klassenübergreifende Protestbewegungen

June 3rd, 2024

Klassenübergreifender Protest nimmt oft die Form der sozialen Straßenbewegung an. Es gibt auch Straßenbewegungen, die klar von den proletarischen Unterschichten dominiert werden, wie zum Beispiel Jugendrevolten (zum Beispiel in London im August 2011), Ghettoaufstände (so im Herbst 2005 in Frankreich in der Banlieue von Paris) oder militante Arbeitslosenbewegungen (wie in der Weltwirtschaftskrise ab 1929 in den USA). Beispielsweise entwickelte sich ab November 2018 in Frankreich die stark proletarisch geprägte Straßenbewegung der Gelbwesten. Diese organisierte ein Jahr lang militante Demonstrationen. Eine starke Verbindung von Klassenkampf und vom Proletariat dominierte Straßenbewegungen geht von branchenübergreifenden Streiks aus. Lohnabhängige streben von ihren Arbeitsorten auf die Straßen und öffentlichen Plätzen, um ihren sozialen Protest zum Ausdruck zu bringen. Sie demonstrieren gemeinsam mit nichtlohnarbeitenden ProletarierInnen und unzufriedenen kleinbürgerlichen Schichten. Auf einen oder zwei Tage begrenzte Generalstreiks, noch deutlicher branchenübergreifende Erzwingungsstreiks bringen die Möglichkeit zum Ausdruck, dass das klassenkämpferische Proletariat potenziell zum Gravitationszentrum des sozialen Protestes werden kann. Dies kann jedoch nur in einer möglichen sozialen Revolution geschehen.

Von dieser proletarisch dominierten Straßenbewegung als Teil des Klassenkampfes müssen wir den klassenübergreifenden sozialen Protest unterscheiden, in dem das Proletariat nur als der Schwanz von KleinbürgerInnen oder bestimmten politischen Fraktionen des Kapitals agiert. Am stärksten ist die klassenübergreifende Protestbewegung bei allgemeinen sozialen Antiregierungsprotesten. Eine solche bürgerliche Protestbewegung kann bestimmte Regierungen und -formen stürzen – aber nur bei der Reproduktion des Staates. Die alte Regierung wird durch den Druck einer allgemeinen sozialen Protestbewegung gestürzt, um eine neue bilden zu können. Eine solche allgemeine klassenübergreifende Protestbewegung ist zutiefst politisch. Sie wird zur Manövriermasse von bestimmten politischen Kapitalfraktionen gegen andere. Das Proletariat ist hier nur Bauer im politischen Schachspiel. Antipolitisch-sozialrevolutionäre Strömungen können in klassenübergreifende allgemeine Protestbewegungen nur intervenieren, wenn sie ihre absolute Unabhängigkeit gegenüber deren politischen Führungen wahren können.

Verdeutlichen wir dies an den zwei Beispielen Belarus und Myanmar. Belarus ist nur eine formale Demokratie, in der die führende politische Charaktermaske, Lukaschenko, wirkliche politische Konkurrenz um die Beherrschung des Staatsapparates nicht wollte, aber gleichzeitig auch nicht auf den legitimierenden Effekt von Wahlen verzichtete. Das Ergebnis waren die massiven Wahlfälschungen im August 2020. Dagegen entwickelte sich eine allgemeine klassenübergreifende Protestbewegung. Sie wurde eindeutig von der liberal-demokratischen politischen Opposition angeführt, die vom westlichen Imperialismus, von der EU und der USA, unterstützt wurde. Diese politische Protestbewegung wurde vom Lukaschenko-Regime mit Unterstützung Moskaus repressiv zerschlagen. Die Lohnabhängigen waren in dieser Bewegung nur der proletarische Schwanz innerhalb des politischen und imperialistischen Konkurrenzkampfes. Eine antipolitisch-sozialrevolutionäre Strömung in Belarus hätte sowohl das Lukaschenko-Regime als auch die liberal-demokratische Opposition, den russländischen und den westlichen Imperialismus bekämpfen müssen. Nicht für die Ersetzung von Lukaschenko als regierende Charaktermaske durch prowestlich-demokratische BerufspolitikerInnen, sondern den langen Kampf für die antipolitisch-sozialrevolutionäre Zerschlagung von Belarus als Teil einer möglichen Weltrevolution!

Myanmar befand sich seit 2011 in der Transformation von einer Militärdiktatur zu einer demokratischen Herrschaftsform. Es bestand eine Zivilregierung, die von der Nationalen Liga für Demokratie (NLD) und deren führende Charaktermaske Suu Kyi gestellt wurde, während die Militärs weiterhin große Teile der wirtschaftlichen und politischen Macht in ihren Händen behielten. Die Wahlen im November hätten der NLD mehr politischen Einfluss beschert, dagegen putschten die Militärs am 1. Februar 2021. Sie entmachteten NLD und Suu Kyi. Dagegen entwickelte sich zuerst eine soziale Protestbewegung, die von der prodemokratischen Fraktion des Kapitals dominiert wurde. Die Militärs gingen mit scharfer Repression gegen diese Bewegung vor. Im April 2021 bildeten die DemokratInnen eine Gegenregierung zu den herrschenden Militärs, die Regierung der Nationalen Einheit, die schließlich auch eine militärische Streitmacht, die Volksverteidigungskräfte (PDF), aufstellte. In der zivilen klassenübergreifenden Protestbewegung gegen das Militärregime waren besonders Lohnabhängige aus dem Medizin- und Pflegebereich sowie LehrerInnen aktiv.

SozialrevolutionärInnen dürfen auf gar keinem Fall an den militärischen Kämpfen zwischen DemokratInnen und Militärdiktatur teilnehmen. Das ist ein sozialreaktionäres innerkapitalistisches Gemetzel. An der zivilen, klassenübergreifenden Protestbewegung gegen das Militärregime können sie nur teilnehmen, wenn sie auch die Demokratie als Herrschaftsform des Kapitals kompromisslos bekämpfen. Nicht nur gegen die Militärdiktatur, sondern gegen alle politischen Formen der Diktatur des Kapitals! Kein Bündnis mit demokratisch-oppositionellen BerufspolitikerInnen gegen das Militärregime, sondern antipolitischer Klassenkampf gegen den Staat!

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In seinen geschichtlichen Zentren, in Europa und Nordamerika, ist der Kapitalismus noch immer strukturell rassistisch und patriarchal-sexistisch, es hat aber bereits eine linksliberale Modernisierung dagegen eingesetzt, gegen die der Rechtskonservativismus und der Neofaschismus verbissen ankämpfen. Rassismus und Sexismus sind sowohl klassenübergreifend als auch klassenspezifisch. „Nachtweiße“ und Frauen sind in der Bourgeoise Europas und Nordamerikas unterrepräsentiert und das „farbige“ sowie weibliche Proletariat wird oft einer extra rassistischen und sexistischen Ausbeutung und Unterdrückung unterworfen.

Ein Kapitalismus ohne Rassismus und Sexismus wäre prinzipiell-strukturell möglich. Menschen mit „nichtweißer“ Hautfarbe und Frauen sind dann innerhalb der europäisch-nordamerikanischen Bourgeoisie nicht mehr unterrepräsentiert und als Teil des Proletariats nicht mehr rassistisch und sexistisch extraausgebeutet – wobei selbstverständlich die „normale“ Ausbeutung bleibt. Es ist auch prinzipiell möglich, dass die feministische Modernisierung des Kapitalismus die biosozialen Reproduktionstätigkeiten gleichmäßiger auf die Schultern von Männern und Frauen verlagert. Aber das wird wohl kaum etwas daran ändern, dass die Bourgeoisie den Großteil der Tätigkeiten auch zu ihrer biosozialen Reproduktion dem privat dienenden Lohnabhängigen – dem modernen Dienstpersonal – aufhalst. Egal, wie weit die linksliberale Modernisierung des Kapitalismus gehen kann, SozialrevolutionärInnen werden mit Sicherheit nicht zu ihrem kleinbürgerlichen Schwanz gehören. Sie stellen der bürgerlichen Frauenemanzipation im Rahmen der kapitalistischen Klassenspaltung den revolutionären Kampf gegen das kapitalistische Patriarchat gegenüber. Und der liberalen Gleichberechtigung der Hautfarben im Kapitalismus die klassen- und staatenlose Weltgemeinschaft.

Demgegenüber sind die kleinbürgerlich-klassenübergreifenden BürgerInnenrechtsbewegungen diskriminierter „nichtweißer“ Bevölkerungsteile (zum Beispiel die afroamerikanische und die der UreinwohnerInnen in den USA) als auch die verschiedenen Frauenbewegungen objektiv Teil der linksliberalen Modernisierung des Kapitalismus. Die linksliberale Identitätspolitik, die im modernen Antirassismus und Antisexismus zum Ausdruck kommt, vergisst bei dem klassenübergreifen Charakter von Rassismus und Sexismus oft deren Klassenspezifik. Gerade darin zeigt sich ihr kleinbürgerlich-sozialreaktionärer Charakter. Nicht von ungefähr ist das mit Absicht klassenneutrale Feindbild der linksliberalen Identitätspolitik, der „alte, weiße Mann“, Projektionsfläche eines Konkurrenzchauvinismus. Die jungen, „farbigen“ Damen aus Bourgeoisie und KleinbürgerInnentum neiden den „alten weißen Männern“ die politische und wirtschaftliche Macht. Ihre „nichtweiße“ Hautfarbe und ihr weibliches Geschlecht ist bei ihnen das spezifische Kostüm im Konkurrenzkampf aller gegen alle. Selbstverständlich sind die jungen „nichtweißen“ Damen der Bourgeoisie genauso strukturelle Klassenfeindinnen des multikulturellen, multinationalen und geschlechterübergreifenden Weltproletariats wie die „weißen alten Männer“ dieser herrschenden Klasse.

Über den sozialreaktionären Charakter des „schwarzen“ Nationalismus/Rassismus haben wir schon im Kapitel I.12 geschrieben. Zeigen wir kurz die reaktionären Tendenzen des Mittelstandsfeminismus auf. Zum Beispiel sind Teile der Frauenbewegung männer- und Transgenderfeindlich – letztere werden als „Männer in Frauenkleidern“ abqualifiziert. „Wie weit die Annäherung von Teilen der lesbisch-feministischen Bewegung an rechte Organisationen geht, wird am Beispiel von Julia Beck deutlich. (…) In den USA ist sie eine der wichtigsten Stimmen im Kampf gegen die Rechte von Transpersonen. Seit kurzem lebt sie in Berlin. In den Vereinigten Staaten hat sie zusammen mit der Woman‘s Liberation Front (Wolf) mehrere Kampagnen gegen die Liberalisierung von Transrechten unter der Regierung von Barack Obama durchgeführt. 2019 nahm sie an einer Veranstaltung der Heritage Foundation teil. Die 1973 unter Ronald Reagan gegründete konservative Stiftung hat sich in den vergangenen Jahren auch immer wieder durch ihre Unterstützung antikommunistischer Bewegungen hervorgetan.“ (Janka Kluge, Lesbenfrühling ohne Transfrauen, in: junge Welt vom 21. Mai 2021, S. 15.)

SozialrevolutionärInnen können international an größeren klassenübergreifenden Frauenbewegungen gegen soziale Diskriminierung, geschlechtsbezogene Gewalt und staatliche Repression gegen Abtreibungen teilnehmen, müssen aber immer deren kleinbürgerlichen Charakter kritisieren. Ähnliches gilt auch für größere antirassistische Bewegungen. Aber grundsätzlich gilt: ProletarierInnen können ihre rassistische und/oder sexistische Extraausbeutung nicht im Rahmen von klassenübergreifenden Antirassismus-/Antisexismus-Bewegungen überwinden. Da wo zum Beispiel der Frauenstreik nicht nur symbolisch ist, sondern in wirklichen Arbeitsniederlegungen zum Ausdruck kommt, beruht er auch auf der Solidarität ihrer männlichen Kollegen (siehe Kapitel II.11). In solchen Frauenstreiks wird auch deutlich, dass der proletarische Klassenkampf perspektivisch zum Gravitationszentrum des sozialen Widerstandes werden kann.

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Der militärische Konkurrenzkampf zwischen den kapitalistischen Nationalstaaten erzeugt ein unermessliches Leid innerhalb der kleinbürgerlich-proletarischen Zivilbevölkerung. Dagegen richtet sich die kleinbürgerliche Friedensbewegung, die aber in ihrer Mehrheit nicht wirklich die Ursachen des imperialistischen Krieges bekämpft: die kapitalistische Produktionsweise und die bürgerlichen Nationalstaaten. Dabei darf mensch ein paar Sprüche gegen den Kapitalismus nicht mit einer klaren antikapitalistischen Positionierung verwechseln. Die Mehrheit der Friedensbewegung stellt dem imperialistischen Krieg den bürgerlichen Frieden als Scheinalternative gegenüber. Doch der bürgerliche Frieden zwischen den Staaten ist lediglich eine nichtmilitärische Form des Konkurrenzkampfes. Bürgerlicher Frieden trägt in sich den imperialistischen Krieg wie die Wolke den Regen. Bürgerlicher Frieden ist nur hochgerüstet zu haben. Gerade die zwei Kalten Kriege zeigen zudem, dass Frieden und Krieg keine starren Gegensätze sind, sondern fließend ineinander übergehen. Der kleinbürgerliche Pazifismus tritt für eine Abrüstung der Staaten und für deren friedliche Kooperation ein, also bei deren Weiterexistenz. Es kann aber nur eine wirksame Abrüstung geben: Die Zerschlagung aller Nationalstaaten durch das sich selbst revolutionär aufhebende Weltproletariat. Dagegen ist die friedliche Kooperation der Nationalstaaten – also der strukturellen Klassenfeinde des Proletariats – nur eine besondere Form des kapitalistischen Klassenkrieges.

Während die Frauen- und die antirassistischen BürgerInnenrechtsbewegung zwar klassenübergreifend sind, eint sie jedoch noch durch den patriarchal-sexistischen und rassistischen Charakter des Kapitalismus die sozial bedeutsamen Gemeinsamkeiten wie Geschlecht oder Hautfarbe. Bei der Friedensbewegung ist das nicht so. Einzig der Abscheu gegen den Krieg und die Verklärung des bürgerlichen Friedens hält die Bewegung zusammen. Sie ist also durch und durch kleinbürgerlich. SozialrevolutionärInnen stellen der kleinbürgerlichen Friedensbewegung den proletarischen Klassenkampf gegen den Kapitalismus gegenüber. So streikten zum Beispiel in den USA am 1. Mai 2008 an der Westküste 25.000 HafenarbeiterInnen gegen den Irakkrieg Washingtons. Stimmt schon, das war mehr eine symbolische Aktion. Um imperialistische Kriege wirklich zu verhindern oder zu beenden, ist ein unbefristeter branchenübergreifender Erzwingungsstreik notwendig. Und um den bürgerlichen Frieden als Quelle des imperialistischen Krieges zum Versiegen zu bringen, ist eine globale soziale Revolution erforderlich. Klar, noch wird der Klassenkampf reproduktiv im Rahmen des Kapitalismus geführt, aber er hat revolutionäre Tendenzen und Potenzen, was mensch von der kleinbürgerlich-pazifistischen Bewegung nicht behaupten kann.

Friedensbewegungen können nur dann eine Massenbasis bekommen, wenn die Bedrohung durch einen möglichen Krieg stark empfunden wird, wie zum Beispiel in der BRD in den 1980er Jahren durch die Aufstellung von Atomraketen während des ersten Kalten Krieges. Oder wenn der imperialistische Krieg mit starken Verlusten an SoldatInnen der „eigenen“ Nation verbunden ist, wie zum Beispiel das von Washington organisierte Gemetzel in Vietnam.

Ähnlich wie die Friedens- ist auch die Umweltbewegung klassenübergreifend-kleinbürgerlich. Sie kann dort einen größeren Umfang annehmen, wo kapitalistische Unternehmen oder die Staaten als politische Gewaltapparate menschen- und mitweltfeindliche Maßnahmen durchsetzen wollen, zum Beispiel den Bau von Kohle- und Atomkraftwerken oder von Pipelines. In solchen konkreten Situationen können auch proletarische RevolutionärInnen an einer klassenübergreifenden und damit objektiv kleinbürgerlichen Umweltbewegung teilnehmen, um diese ein wenig zu radikalisieren, aber in der institutionalisierten Umweltbewegung haben sie nichts zu suchen. Die progressivsten Kräfte der Umweltbewegung müssen lernen, sich grundsätzlich auf den proletarischen Klassenkampf als potenziellen Gravitationskern des sozialen Widerstandes zu orientieren.

SozialrevolutionärInnen machen grundsätzlich deutlich, dass die klassenübergreifende Umweltbewegung aus sich heraus die permanente ökosoziale Krise, die von der kapitalistischen Produktionsweise produziert wird, nicht lösen wird. Große Teile der Umweltbewegung glauben, wenn sie nur genügend Druck auf die BerufspolitikerInnen ausüben, diese dann wichtige Schritte gegen den Klimawandel unternehmen würden. Doch der Klimawandel wurde durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern hervorgerufen. An dieser Energiestruktur hängen starke Kapitalinteressen, weshalb die Staaten als ideelle Gesamtkapitalisten nur langsam gegensteuern – durch die Förderung erneuerbarer Energien (Wind- und Sonnenenergie sowie die von Biomasse) und der Elektroantrieb in der Automobilindustrie als Scheinalternative. Der Kapitalismus hat das Zeug dazu, die ökosoziale Krise lebensbedrohlich zu verschärfen, aber nicht sie zu lösen. Die ökosoziale Krise kann nur von einer klassen- und staatenlosen Weltgemeinschaft vielleicht gelöst werden. Doch diese klassen- und staatenlose Weltgemeinschaft kann nur möglicherweise durch die globale soziale Revolution entstehen, die wiederum nur als eine extreme Radikalisierung des Klassenkampfes möglich ist.

Klar, solange die Mehrheit des Proletariats noch mehrheitlich ein reproduktiv-sozialreformistisches Bewusstsein hat, verteidigen auch viele Lohnabhängige ihre umweltschädlichen Ausbeutungsplätze – einfach, weil das „unproduktive“ Elend der Erwerbslosigkeit von ihnen noch drückender wahrgenommen wird als das produktive der Lohnarbeit. Große Teile der Umweltbewegung reagieren darauf, dass sie eine umweltfreundliche Umgestaltung der kapitalistischen Produktionsweise fordern. Proletarische RevolutionärInnen treten dem gegenüber für eine Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise ein. Diese Produktionsweise kann aber nur von innen, durch die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats überwunden werden.

Diese sozialrevolutionäre Perspektive muss dem sozialreformistischen Green New Deal (GND) entgegengesetzt werden. Das Feld der GND ist mit verschiedenen Pflanzen der Ideologieproduktion bewachsen. Für den Mainstream ist es nur ein neues Jobparadies mit tarifvertraglich ausgehandelten Löhnen in der Branche der erneuerbaren Energieerzeugung. Auf das die kapitalistische Ausbeutung der Lohnarbeit grün wird! Matthias Martin Becker schrieb darüber: „Das US-amerikanische Sunrise Movement, eine Initiative der Klimagerechtigkeitsbewegung, fordert ,Klimajobs‘: sichere Arbeitsplätze im Energiesektor, die nach gewerkschaftlichen Tarifen bezahlt werden, und gleichzeitig die Umstellung auf Erneuerbare vorantreiben. So sollen die Beschäftigten im fossilen Energiesektor überzeugt werden, die bisher über deutlich bessere Einkommen und Arbeitsbedingungen verfügen als die bei den Erneuerbaren. Die Infrastruktur soll insbesondere der ärmeren Bevölkerung zugutekommen, in Form günstigerer Stromtarife und energetisch sanierte Sozialwohnungen.“ (Matthias Martin Becker, Klima, Chaos, Kapital. Was über den Kapitalismus wissen sollte, wer den Planeten retten will, PapyRossa Verlag, Köln 2021,S. 148.) Da der GND nur den Kapitalismus praktisch-geistig reproduzieren kann, muss er von SozialrevolutionärInnen kompromisslos bekämpft werden.

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Noch immer herrscht mehr oder minder repressiv in den meisten Staaten der Welt die heterosexuelle Normierung. Dagegen entwickelte sich die klassenübergreifende und damit notwendig kleinbürgerliche soziale Protestbewegung der Homo-, Bi-, Trans- und Intersexuellen (LGBT). Notwendig kleinbürgerlich ist diese Bewegung, weil alle Menschen jenseits der Bourgeoisie – also auch die ProletarierInnen – kleinbürgerliche Markt- und Politsubjekte sind. Nur im kollektiven Klassenkampf kann das Proletariat potenziell seine kleinbürgerlichen Tendenzen überwinden. Diese Überwindung kann jedoch nicht bei einer klassenübergreifenden Organisierung von Menschen aufgrund ihrer von der heterosexuellen Normierung abweichenden sexuellen Orientierung oder individuellen Geschlechtsidentität erfolgen. Diese Menschen können zusammen nur eins fordern: das Ende ihrer Diskriminierung durch den Staat und dass ihre Bedürfnisse in Form von Rechten auf Anderssein jenseits der heterosexuellen Normierung staatlich anerkannt werden. Trotz teilweise militanter Kämpfe von Teilen dieser Bewegung gegen den politischen Gewaltapparat, kann diese niemals auf sich allein gestellt den politischen Gewaltapparat zerschlagen. Der Staat kann die LGBT-Bewegung grundsätzlich integrieren, indem er alle individuellen Geschlechtsidentitäten und auch nichtheterosexuelle Lebensformen absolut anerkennt und diese Anerkennung sich auch in der herrschenden Ethik vollständig durchsetzt. Dies ist prinzipiell möglich – auch wenn dabei große Widerstände zu überwinden sind. Weil dies mit der kapitalistischen Produktionsweise nicht unvereinbar ist.

Ihre Höhepunkte erlebt die LGBT-Bewegung in bunten Straßendemonstrationen am Christopher Street Day (CSD), auf denen die Menschen ihre sexuelle Orientierung und individuelle Geschlechtsidentität jenseits der heterosexuellen Normierung demonstrieren. „Seinen Ursprung hat der CSD im Jahr 1969. Damals in den frühen Morgenstunden des 28. Juni, hatten sich Schwule, Lesben und Dragqueens gegen eine Serie brutaler Übergriffe durch die Polizei gewehrt. Infolge einer Reihe von Angriffen der Beamten auf die in der New Yorker Christopher Street gelegene Bar ,Stonewall Inn‘ kam es zu heftigen Straßenschlachten mit Betroffenen, die sich erstmals militant der staatlichen Repression widersetzten.“ (Markus Bernhardt, Vor großen Herausforderungen, in: junge Welt vom 2. Juli 2021, S. 15.)

Am Beispiel der LGBT-Bewegung lässt sich auch sehr gut der Unterschied zwischen rechter und mittig-linker Fraktion des Kapitals in den USA verdeutlichen. Donald Trump, der Repräsentant der rechten Fraktion des Kapitals, machte als US-Präsident im Februar 2017 eine Regelung seines mittigen Vorgängers, Barack Obama, rückgängig, die es Transgendern in Schulen und Universitäten freistellte, welche Toiletten und Umkleideräume sie benutzten. Als der Repräsentant der mittig-linken Fraktion des Kapitals, Joe Biden, im Januar 2021 neuer US-Präsident wurde, unterzeichnete er noch im ersten Monat seiner Amtszeit ein Dekret, dass jungen Transgender erlaubte, deren eigetragenes Geschlecht männlich ist, die sich aber als Mädchen fühlen, beim Sport gegen biologische Mädchen anzutreten. Außerdem machte Biden ebenfalls in diesem Monat den von Trump durchgesetzte Ausschluss von Trans-Menschen vom US-Militär rückgängig.

An diesen Beispielen wird deutlich, dass die Diskriminierung von Transgendern und die kapitalistische Ausbeutung von Lohnarbeit in bürgerlichen Staaten zwei völlig verschiedene Dinge sind. Die erste kann in bürgerlichen Staaten vollständig aufgehoben werden, während sie grundsätzlich auf der kapitalistischen Ausbeutung der Lohnarbeit beruhen. Die politisch mittig-linke Fraktion des US-Nationalkapitals ist in der Lage, die LGBT-Bewegung zu integrieren, während die rechte sie weiter gegen sich aufbringt.

Perspektivisch, von der Möglichkeit seiner revolutionären Zuspitzung her, ist der proletarische Klassenkampf auch die einzige soziale Bewegung, die sexuelle Befreiung erkämpfen kann. Früher wurde die Sexualität unterdrückt, heute wird sie im hochentwickelten Kapitalismus vermarktet. In der Peripherie des Kapitalismus, wie zum Beispiel in Russland wird Homosexualität noch immer unterdrückt. Die Begrenzung – auch des heterosexuellen – Sexualtriebes passte zum Frühkapitalismus, als das Kapital ursprünglich angehäuft wurde. Geld vermehren, nicht vögeln! Ab einer bestimmten Fettschicht der Kapitalvermehrung – im Westen war das nach dem Zweiten Weltkrieg – wurde dann auch der Massenkonsum zur Quelle der Kapitalvermehrung. Ab den 1970er Jahren wurde auch die Sexualität vermarktet. Der Frauenkörper wurde zur Wichsvorlage. Sexualität wurde vom Tabuthema zur Ware. Die gleiche Entwicklung brachte jedoch auch eine Liberalisierung und eine gewisse Aufweichung der heterosexuellen Normen mit sich. Sexuelle Toleranz wurde ein Markenzeichen der ökolinksliberalen Fraktion des Kapitals. Ein Beispiel dafür, dass innerkapitalistischer „Fortschritt“ untrennbar mit der allgemeinen Zivilisationsbarbarei dieser Gesellschaft verbunden ist. Auch das Proletariat litt und leidet sowohl unter der frühkapitalistischen Unterdrückung als auch der kulturindustriellen Vermarktung der Sexualität. SexarbeiterInnen sind Teil des Proletariats. Und es gibt auch ProletarierInnen, die von der heterosexuellen Norm abweichen, die zuweilen noch sehr totalitär in Teilen der kapitalistischen Peripherie herrscht. Die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats muss auch sexuelle Befreiung beinhalten.

Ein Teil der politischen Linken, der 1968erInnen, dachte das vorrangige Beschäftigen mit der Sexualität sei subversiv, doch sie war nur die Selbstvermarktung des kleinbürgerlichen Individuums. Seine sexuelle Identität ist Teil seines unverwechselbaren Kostüms, in dem er in den Massenszenen mitspielt. Die Identitätspolitik macht ein Riesentamtam aus den von der heterosexuellen Familie abweichenden Formen des Zusammenlebens. Sie kultiviert geradezu die Abweichung. Linksintellektuelle KleinbürgerInnen machen Politik für die von der herrschenden Norm abweichenden Formen von Sexualität, Geschlecht und Hautfarbe. Während sich die neoliberalen KleinbürgerInnen sozial und kulturell darum balgen, wer der/die erfolgreichste unter ihnen ist, streiten sich ihre linksidentitären Klassengeschwister darum, wer die Unterdrücktesten sind. Eine Kultivierung der Benachteiligung und Unterdrückung. Und des kleinbürgerlichen Individualismus. Das linksidentitäre Klagelied lautet: „Ich bin ja in meiner Identität so sehr unterdrückt. Du hast eine ganz andere Identität, kannst mich also gar nicht verstehen. Schon dein Versuch, über meine Unterdrückung mit zu reden, stellt eine Nichtanerkennung meiner unterdrückten Identität dar.“

Während der Sexismus und Rassismus dem Geschlecht und der Hautfarbe eine soziale Bedeutung zuschrieben, die sie ursprünglich gar nicht hatten und erst durch das materiell werden der rassistischen und sexistischen Ideologie bekamen, kultivieren kleinbürgerlich-linksidentitäre Frauen und Farbige nun ebenfalls ihr weibliches Geschlecht und ihre dunkle Hautfarbe – aber positiv. Wo der rechte Sexismus und Rassismus ein Minuszeichen setzt, setzt die linke Identitätspolitik ein Plus. Das ist nun so ziemlich das Gegenteil davon, für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der die biologischen Merkmale wie Geschlecht und Hautfarbe keine sozialen Rollen mehr spielen. Die linke Identitätspolitik ist nur der kleinbürgerliche Schwanz der ökoliberal-multikulturell-sexualtoleranten Fraktion der Bourgeoisie.

Linke Identitätspolitik spaltet wie rechtspolitischer „weißer“ Rassismus und „männlicher“ Sexismus“ das Weltproletariat. Der sozialrevolutionäre Universalismus als der geistig-ethische Ausdruck von der möglichen klassenkämpferisch-revolutionären Einheit des globalen Proletariats (siehe Kapitel V.6) nimmt selbstverständlich die rassistische und sexistische Extraausbeutung und -unterdrückung von „nichtweißen“ und „weiblichen“ Teilen der planetaren Klasse wahr. Es ist auch richtig, diese zu betonen. Aber es ist falsch, um „Weiblichkeit“, „nichtweiße Hautfarbe“ oder nichtheterosexueller Orientierung einen identitären Kult zu veranstalten. Schwule, heterosexuelle, männliche und weibliche, „weiße“ und „nichtweiße“ ProletarierInnen kämpfen schon im reproduktiven Klassenkampf Seite an Seite gegen Kapital und Staat. Es gilt das Einigende zu betonen, nicht das Trennende, so wie dies Rassismus, Sexismus, Heterochauvinismus und linksliberale Identitätspolitik tun.

Letztere ist für linke KleinbürgerInnen auf Selbstfindungstrip wahnsinnig wichtig, aber für ProletarierInnen, die ihre eigene Ausbeutung erkannt haben und die soziale Befreiung anstreben, ist das ein absurdes Theater. Proletarisch-revolutionäres Klassenbewusstsein ist die Verneinung der erbärmlichen bürgerlichen Identitätskultur und -politik. Revolutionäre ProletarierInnen suchen nicht nach sich selbst im individualistisch-kleinbürgerlichen Alltag, sondern finden sich im kollektiven Kampf ihrer Klasse. Proletarische RevolutionärInnen streben die Aufhebung der bürgerlichen Identität an, ihre eigene Selbstaufhebung.

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Es entwickeln sich auch kleinbürgerlich-reaktionäre Bewegungen wie zum Beispiel während der globalen Coronaviruspandemie die von deren LeugnerInnen und VerharmloserInnen sowie den ImpfgegnerInnen in Europa und in Nordamerika. Natürlich muss das Management der Staaten in der globalen COVID-19-Pandemie grundsätzlich von einem antikapitalistisch-antipolitischen Standpunkt kritisiert werden. Aber die rechtsreaktionäre Rebellion – an dessen Schwanz sich auch einige politische Linke befinden, wie zum Beispiel in Deutschland die Linksnationalistin Sahra Wagenknecht – gegen das Maskentragen, Abstandhalten und Impfen ist absolut irrational, pandemietreibend, ultraindividualistisch, sich und andere gefährdend. Es ist die Rebellion von Marktsubjekten, die die vollständige Unterwerfung unter die Ware-Geld-Beziehung für „Freiheit“ und die Mund- und Nasenbedeckung gegen COVID-19 für das „Ende der Freiheit“ halten. Die Bewegung der CoronaleugnerInnen und -verharmloserInnen sowie der ImpfgegnerInnen ist irrational-sozialreaktionärer Protest gegen sozialreaktionäre politische Gewaltapparate. Sie ist der Ausdruck einer Gesellschaft, in der die gegeneinander kämpfenden Klassen und untereinander konkurrierenden Marktsubjekte nur indirekt über die Ware-Geld-Beziehung und den Staat vergesellschaftet sind. „Ich will ohne Maske einkaufen gehen! Ich will im Urlaub die Sau rauslassen, wenn ich mir schon auf Arbeit alles gefallen lassen muss! Ich will mich nicht impfen lassen, das ist meine private Entscheidung!“ schreit das asoziale Konkurrenzindividuum, die Gefahren der Pandemie für sich selbst und andere ignorierend.

Der demokratische Staat ist grundsätzlich der Hüter dieser individualistischen Freiheitsvorstellungen von Marktsubjekten, aber in der Pandemie hat er keine andere Wahl, als diese ein wenig und inkonsequent einzuschränken, um die Leichenproduktion nicht gar so groß werden zu lassen. Klar, Notstandsmaßnahmen von Staaten sind etwas anderes, als kollektiv und solidarisch durchgesetzte Sicherheitsvorkehrungen – doch dazu ist eine Klassengesellschaft grundsätzlich nicht fähig. Und dass der Staat die Notstandsmaßnahmen gegen das Coronavirus dazu nutzt, um grundsätzlich seine Macht auszubauen, ist auch klar. Klassenkämpferische ProletarierInnen halten räumlichen Abstand, tragen eine Mund-Nasen-Bedeckung und lassen sich impfen, nicht weil der Staat das so will, sondern weil es medizinisch zweckmäßig ist. Sie kämpfen gegen die reale Diktatur des Kapitals, aber nicht gegen eine eingebildete „Impfdiktatur“, wobei auch sie aus antipolitischen Gründen eine staatliche Impfpflicht ablehnen. Proletarische RevolutionärInnen kämpfen gegen den Staat, verteidigen aber nicht die ökonomische und politische Freiheit in dessen Rahmen.

Aber diese kleinbürgerlich-reaktionäre Massenbewegung von Amok laufenden Marktsubjekten – einschließlich der ProletarierInnen, die als MitläuferInnen in solchen Bewegungen nichts als kleinbürgerliche IndividualistInnen sind –, die militant ihre Freiheit verteidigen, Fakten zu ignorieren und damit zur Gefahr für sich selbst und andere zu werden, ist ein gefährlicher Ausdruck der demokratisch-faschistischen Sozialreaktion, in der asozialer Konkurrenzindividualismus, Ultranationalismus und Irrationalismus sich mischen. NeofaschistInnen sind sowohl in Europa als auch in den USA Teil dieser Bewegung. Und sie ist militant. So besetzte sie im April 2020 das Kapitol des US-Bundesstaates Michigan, um die „Freiheit“ gegen staatliche COVID-19-Beschränkungen zu verteidigen. Und terrorisierte Kommunen durch „Bürgerwehren“. Auch in Deutschland ist diese Bewegung teilweise sehr gewalttätig. In Berlin stürmte am 29. August 2020 der rechtsnationalistische Teil der Bewegung von CoronaleugnerInnen und VerharmloserInnen den Reichstag. Beim Aufeinanderprallen dieser kleinbürgerlichen Bewegung mit dem Staat trifft reaktionäres Pack auf reaktionäres Pack. Die linksbürgerlichen Gegendemonstrationen gegen die „QuerdenkerInnen“ in Deutschland sind bieder-staatstragend und antifaschistisch-beschränkt mit ein paar Tropfen sozialreformistischer Ideologie verrührt.

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