4. Die zwei Perioden der Kapitalvermehrung
Im hochentwickelten Privatkapitalismus gibt es grundsätzlich zwei Perioden der Kapitalvermehrung. Das ist die Periode der beschleunigten Kapitalvermehrung und die der strukturellen Profitproduktionskrise. Alle beiden Perioden sind durch Zyklen (Aufschwung-Abschwung) gekennzeichnet. Die Periode der beschleunigten Kapitalvermehrung ist durch sehr expansive und relativ lang andauernde zyklische Aufschwünge sowie nicht sehr tiefe Abschwünge geprägt.
Aus der Periode der beschleunigten Vermehrung geraten die Nationalkapitale durch den tendenziellen Fall der Profitrate in die strukturelle Profitproduktionskrise. Die Profitrate ist das Verhältnis zwischen dem Mehrwert und den Produktionskosten (Löhne und Preise der Produktionsmittel). Eine erfolgreiche Vermehrung der Nationalkapitale ist mit einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität verbunden. Diese besteht wesentlich in der Entwicklung der Technologie. Im Verlauf der Kapitalvermehrung werden immer mehr Funktionen der LohnarbeiterInnen, des menschlichen produktiven Kapitals, zu denen der Maschinerie, des gegenständlichen produktiven Kapitals. Die notwendigen Produktionsmittelkosten steigen also im Verlauf der Kapitalvermehrung gewaltig. So betrug nach einer Berechnung in den USA im Jahre 1830 der Tauschwert von Maschinerie und Ausrüstung pro Beschäftigten 281 Dollar. Dieser Wert stieg bis 1992 auf 39.636 Dollar (in internationalen Dollar von 1990). Im gleichen Zeitraum stiegen in den USA die Investitionen in Betriebsgebäude pro Beschäftigten von 3.503 auf 72.625 Dollar. Während der US-Autokonzern General Motors noch im Jahre 1960 für den Bau einer ganz neuen Fabrik in Lordstown/Ohio 100 Millionen Dollar ausgab, musste das Unternehmen im Jahre 2002 für die Modernisierung dieser Fabrik 500 Millionen Dollar investieren. Die Produktionsmittelkosten steigen tendenziell stärker als die Profite. Das ist der tendenzielle Fall der Profitrate.
Dieser tendenzielle Fall der Profitrate kann durch eine größere Profitmasse kompensiert werden. Größere Einzelkapitale können sich von ihren Lohnabhängigen auch mehr Profit produzieren lassen. Größer werden die Einzelkapitale durch normale Investitionen, also der Verwandlung des Mehrwertes in neues Kapital, der Anschaffung von mehr Maschinen beziehungsweise der Errichtung neuer Fabriken sowie die Einstellung von mehr LohnarbeiterInnen. Aber einige Einzelkapitale werden auch größer und mächtiger, indem sie mit anderen fusionieren oder kriselnde Unternehmen aufkaufen. Einige Einzelfirmen werden also größer, während andere als selbständige Marktsubjekte verschwinden. Auf diese Weise vollzieht sich die wachsende Konzentration und Zentralisation der Nationalkapitale. Diese ist auch mit einer gewissen Vergesellschaftung des kapitalistischen Eigentums an Produktionsmitteln verbunden. Die AktionärInnen einer Aktiengesellschaft sind keine individuellen EigentümerInnen von Produktionsmitteln mehr. Sie besitzen Aktien als Anteilsscheine am Unternehmen mit einem Anrecht auf einen Teil des Profites. Gerade Aktiengesellschaften können mit ihrer gewaltigen Größe den tendenziellen Fall der Profitrate durch eine größere Profitmasse kompensieren.
Die wichtigste Gegentendenz zum tendenziellen Fall der Profitrate ist die Erhöhung der Mehrwertrate, dies ist das Verhältnis zwischen dem Mehrwert und den Lohnkosten. Die Mehrwertrate zu erhöhen gelingt nur durch einen erfolgreichen Klassenkampf von oben. Entweder müssen die Reallöhne gekürzt oder die Arbeitszeit ohne oder nur mit einem Teillohnausgleich erhöht beziehungsweise die Ausbeutung intensiviert – zum Beispiel durch eine Erhöhung der Maschinenlaufzeit – werden. Doch die Erhöhung der Mehrwertrate durch erfolgreichen Klassenkampf von oben tritt auf biosoziale und klassenkämpferische Grenzen. Wird das Proletariat überausgebeutet, so dass es sich kollektiv nicht mehr biosozial reproduzieren kann, dann wird die Quelle der kapitalistischen Mehrwertproduktion langfristig vernichtet. Und das Proletariat wird sich dagegen wehren! So trifft die Erhöhung der Mehrwertrate als wichtigste Gegentendenz zum tendenziellen Fall der Profitrate auf Hindernisse. Besonders in der Periode der beschleunigten Kapitalvermehrung, die oft mit relativ wenig Arbeitslosigkeit oder gar mit Vollbeschäftigung verbunden ist, also gute Klassenkampfbedingungen für das Proletariat schafft. So sinkt manchmal in einer Periode der beschleunigten Vermehrung der Nationalkapitale nicht nur die durchschnittliche Profitrate, sondern auch die Mehrwertrate. Das war zum Beispiel beim westdeutschen Nationalkapital bei dessen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen 1950 und 1973 so.
Die typische zyklische Krise während der beschleunigten Kapitalvermehrung ist eine Überproduktionskrise von Produktionsmitteln, die zuerst die kapitalistischen Herstellerfirmen der Produktionsmittel trifft. Während des Aufschwunges in der Zeit der beschleunigten Kapitalvermehrung herrscht in der Regel Vollbeschäftigung, die ArbeiterInnen sind also in der besten Lage Lohnerhöhungen zu erstreiken. Durch Streiks und höhere Löhne sinken die Mehrwert- und Profitraten der kapitalistischen Unternehmen. Doch sinkende Profitraten führen bei den KapitalistInnen, welche ihr Kapital produktiv angelegt haben, tendenziell zu einem verminderten Anstieg oder sogar einer sinkenden Nachfrage nach Produktionsmitteln. Und der verminderte Anstieg der Nachfrage nach Produktionsmitteln reicht manchmal schon aus, um in der Produktionsmittelindustrie zur Überproduktion zu führen. Die Überproduktion von Produktionsmitteln zeigt sich auf der Oberfläche des Marktes als eine Profitrealisationskrise der Produktionsmittelindustrie, doch unter der Marktoberfläche verborgen stellt sie eine Profitproduktionskrise des gesellschaftlichen Gesamtkapitals dar. Das Proletariat ist das Subjekt einer typischen konjunkturellen Krise während einer Periode der beschleunigten Kapitalvermehrung. Es ließ sich nicht ausreichend vom Kapital ausbeuten, es produzierte nicht genug Mehrwert für die weitere konjunkturelle Wirtschaftsexpansion. Die Folge ist eine konjunkturelle Krise.
Die Produktionsmittelfirmen schränken als Folge der konjunkturellen Krise die Produktion ein und entlassen ArbeiterInnen. Außerdem versuchen sie die Reallöhne der noch existierenden Belegschaft zu drücken und sie intensiver durch Arbeitsverdichtung auszubeuten. Wegen der Arbeitslosigkeit befindet sich jetzt das Proletariat in einer verschlechterten Klassenkampfsituation, oft erliegt es den Angriffen des Kapitals. Durch Arbeitslosigkeit und fallende Reallöhne sinkt auch die proletarische Nachfrage nach Konsumgütern. Dadurch gerät auch die Konsumgüterindustrie in eine Profitrealisationskrise, auf die sie ebenfalls mit Entlassungen und Reallohnsenkungen reagiert. Die Krise verschärft sich. Besonders Kleinunternehmen und Firmen, die schon während des konjunkturellen Aufschwunges in Schwierigkeiten steckten, überleben die Krise nicht. Sie gehen Bankrott, ihre Fabrikanlagen verrotten oder werden von wirtschaftlich erfolgreicheren Großunternehmen aufgekauft. Doch eine wachsende Konzentration und Zentralisation des produktiven Kapitals führt zu einer größeren Profitmasse, während durch die Überproduktion von Produktionsmitteln und die massenhaften Bankrotte von Unternehmen die Preise für die Produktionsmittel sinken und gleichzeitig der erfolgreiche kapitalistische Klassenkampf von oben die Löhne senkt. Beides führt wiederum zu einem konjunkturellen Anstieg der Profitrate. Doch die Preise sinken weiter. Um die Produktionskosten zu senken, investiert die Bourgeoisie in dieser Phase der Krise verschärft in Rationalisierungsinvestitionen, wodurch Funktionen der LohnarbeiterInnen als menschliches produktives Kapital zu Funktionen der Maschinerie als gegenständliches produktives Kapital werden. Dabei werden während der Krise moralisch verschlissene Maschinen durch neuere ersetzt. Die Arbeitslosigkeit verschärft sich noch. Doch die Ersatz-/Rationalisierungsinvestitionen führen zu einer langsamen Belebung der Konjunktur als Investitionskonjunktur. Von dieser Konjunktur getragen werden die Ersatz-/Rationalisierungsinvestitionen schließlich ab einer bestimmten Stufe der Entwicklung verstärkt von Kapitalerweiterungsinvestitionen abgelöst. Letztere führen schließlich auch zur Neueinstellung von LohnarbeiterInnen, die Arbeitslosigkeit geht zurück, die Löhne und der proletarische Konsum steigen. Der Aufschwung ist da! Bis der proletarische Konsum wieder für die Profitproduktion zu groß wird…
So sieht im Groben der Konjunkturzyklus während der Periode einer beschleunigten Vermehrung des Kapitals aus. Doch durch den tendenziellen Fall der Profit- und der Kapitalvermehrungsrate erschöpfen sich die Aufschwungsphasen immer mehr, während die Krisen häufiger und tiefer werden… Bis die Kapitalvermehrung durch ihre langfristigen Entwicklungstendenzen in eine strukturelle Profitproduktionskrise gerät.
Zum Ausdruck kommt diese in weniger expansiven zyklischen Aufschwüngen und besonders tiefen konjunkturellen Krisen, die nicht so schnell wieder von einem Aufschwung abgelöst werden können. Es muss noch mehr Kapital vernichtet werden als es in den weniger tiefen konjunkturellen Krisen während der beschleunigten Kapitalvermehrung geschah. Außerdem reicht es nicht aus, dass der kapitalistische Klassenkampf von oben nur die Löhne in Krisenzeiten senkt. Die strukturelle Profitproduktionskrise kann nur dadurch eingedämmt werden, dass die Löhne auch während des Aufschwunges niedrig gehalten werden, was allerdings den proletarischen Konsum ziemlich dämpft und die Verwertungsbedingungen des Konsumgüter- und des Handelskapitals tendenziell verschlechtert. Gelingt verschiedenen Nationalkapitalen auch in Aufschwüngen die Löhne niedrig zu halten beziehungsweise noch zu senken, verändert sich der Konjunkturzyklus grundlegend. Der konjunkturelle Krisengrund von für die Kapitalvermehrung zu hohen Löhnen entfällt zunehmend, die Krisenursache einer mangelnden Konsumnachfrage fällt stärker in das Gewicht.
Da die industrielle Produktion innerhalb der strukturellen Profitproduktionskrise immer unrentabler wird, kann es in ihr zu Prozessen von Produktionsverlagerungen in Niedriglohnländer und Deindustrialisierung kommen, so wie das in den USA ab 1974 geschah. Außerdem ist die Periode der strukturellen Profitproduktionskrise mit einem relativen und absoluten Wachstum des Finanz- und Bankkapitals verbunden. Es kommt auch zu einem Wachstum des fiktiven Kapitals gegenüber dem in der Industrie produktiv angelegten Kapitals. Als fiktives Kapital werden die Wertpapiere (Aktien, Staatsanleihen…) als Anlageformen des Geldkapitals bezeichnet, welche verbriefte Ansprüche auf einen Teil des Mehrwertes darstellen. Der Staat verkauft zum Beispiel Anleihen, die ein verbriefter Anspruch auf einen Teil seiner zukünftigen Steuereinnahmen sind. Wenn Kapitalgesellschaften Aktien verkaufen, verwandeln sie dies dadurch erhaltene Geldkapital in produktives Kapital, das heißt sie investieren in neue Maschinen und mehr Arbeitskräfte. Die AktionärInnen haben einen verbrieften Anspruch auf einen Teil des Profites und Mitspracherechte auf AktionärInnenversammlungen. Doch die Aktien haben einen eigenen Preis und werden auf dem Wertpapiermarkt (Börse) gehandelt. Wenn Aktionär X der Spekulantin Y eine Aktie von General Motors verkauft, dann hat das mit dem produktiv angelegten Kapital der Autofirma nichts zu tun. Deshalb nennt mensch die Wertpapiere fiktives Kapital. Nur sehr vermittelt hat die Verwertung des produktiven Kapitals etwas mit den Preisen der Aktien (Aktienkurse) zu tun. Gelingt es zum Beispiel einem Industrieunternehmen einen ganz besonders hohen Profit einzufahren, dann werden mit großer Sicherheit seine Aktien steigen. Doch die Aktienspekulation kann die Aktienkurse so weit hochtreiben, dass sie mit der realen Basis der Profitentwicklung innerhalb des produktiven Kapitals kaum noch etwas zu tun haben. Dann kann mensch von einer Spekulationsblase reden, die irgendwann einmal platzen muss.
Bei unserem imaginären Beispiel hat die Spekulantin Y massenhaft Aktien von General Motors gekauft, in der Erwartung, dass diese Aktienkurse weiter steigen werden. Und sie steigen auch ganz gewaltig, weil auch viele andere SpekulantInnen annehmen, dass sie gewaltig steigen. Alle wollen jetzt ganz viele Aktien haben, um sie später mit großem Gewinn weiterzuverkaufen. Dadurch entsteht eine riesige Nachfrage nach Aktien. Die Banken feuern die Spekulation noch an, indem sie für diese Kredite gewähren. Eine gewaltige Spekulationsblase entsteht, die mit der Entwicklung des produktiven Kapitals bei General Motors nicht mehr viel zu tun hat. Durch die Spekulation steigen jetzt auch die Aktien aller Autofirmen. Die Spekulationsblase wird größer und größer… bis sie schließlich platzt. Das geschieht, wenn die Hoffnung bei vielen SpekulantInnen, noch jemanden zu finden, der noch mehr Geld für Aktien hinlegt als mensch selbst ausgegeben hat, der Angst vom Platzen der Blase gewichen ist. Dann kommt es zu massenhaften Verkäufen. Das Angebot der Aktien wird größer als die Nachfrage. Die Kurse beginnen zu sinken. Es kommt zu Panikverkäufen, die wiederum die Talfahrt der Aktienkurse verstärken. Wer früh genug aus der Spekulationsblase ausgestiegen ist, konnte sehr reich werden. Wem das nicht gelang, konnte sehr viel Geld verlieren.
Im Kapitalismus geht es generell um die maximale Vermehrung des selbständigen Ausdruckes des Tauschwertes, des Geldes. Ob dies nun mit dem Verkauf von Gummibärchen, dem Verhökern von Panzern oder durch Spekulation mit Aktien geschieht, ist für die KapitalistInnen zweitrangig. Hauptsache das Kapital vermehrt sich. Deshalb gehören Spekulation und Spekulationsblasen unbedingt zur Geschichte des Privatkapitalismus dazu. Doch in Perioden der strukturellen Profitproduktionskrise nehmen sie besonders stark zu. Denn in solchen Perioden ist ja das produktive Kapital in größere Profitproduktions- und Profitrealisationsschwierigkeiten geraten. In solchen Situationen ziehen es nicht wenige GeldkapitalistInnen vor, ihr Geld nicht produktiv, sondern in Wertpapiere anzulegen. Das führt dazu, dass das fiktive Kapital wesentlich schneller wächst als das Industrie- und Handelskapital.
Der westeuropäische und nordamerikanische Privatkapitalismus geriet bisher von 1913 bis 1945 und abermals ab 1974 in die strukturelle Profitproduktionskrise. Wir werden diese Perioden im Kapitel I.10 bei der Untersuchung des Staatsinterventionismus genauer analysieren.
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